A. Einleitung
Als wir das Thema dieses Vortrages festlegten, waren wir uns bewusst, dass es aktuell war. Aber wir konnten nicht ahnen, dass es im Oktober 2023 zu einem der brennendsten Themen in der Tagespresse und in der politischen Debatte werden würde. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland sind die Worte „Integration“ und „Identität“ heute mehr noch als früher zu Zauberformeln geworden, in den Zeitungen, in der Fachpresse, in politischen Debatten, in privaten Gesprächen. Doch worum geht es bei Integration und Identität? Handelt es sich um Fachbegriffe, hinter denen sich eine Vielzahl von Bedeutungen, Realitäten und Widersprüchen verbirgt? Oder lassen sie sich durch präzise Definitionen entzaubern?
Etymologisch stammt das Wort „Integration“ aus dem Lateinischen „integrare“. Bevor der Begriff seine gegenwärtige Bedeutung gewann, bedeutete er zunächst „sich erneuern“, „in Stand setzen“, „reparieren“, „wiederherstellen“ und steht in Verbindung mit „integritas“, dem „Zustand des Unversehrtseins und der Ganzheit“.1 In der Mathematik bedeutet „integrieren“ „eine endliche Größe als Grenzwert einer Summe unendlich kleiner Größen berechnen bzw. eine Funktion nach ihrem Differential bestimmen“. Im weiteren Sinne bedeutet es, „Teile zu einem zusammenhängenden und konzentrierten Ganzen zusammenzufügen“.2 „Identität“ kommt ebenfalls aus dem Lateinischen: „identitas“, „identicus“, „idem“ als Bezeichnung für das, was ähnlich oder das Gleiche ist wie ein anderer oder etwas anderes.
Wer die Worte „Integration“ und „Identität“ verwendet, geht zunächst davon aus, dass es eine Grundlage gibt, ein „zusammenhängendes und konzentriertes“ Ganzes, in das man sich integrieren kann (oder sollte). Identität kann dann zwei Bedeutungen annehmen: die Identität des Ganzen, in das es möglich (oder wünschenswert) ist, sich zu integrieren, oder die Identität des externen Elements, das demselben Ganzen gegenübersteht. Hierdurch entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Bedürfnis nach einer kollektiven Identität und dem Wunsch, die individuelle Identität zu behalten oder sie nicht in der Gesamtheit aufzulösen.
Sobald ein Spannungsverhältnis zwischen der Gesamtheit und dem Element entsteht, das wesentlich unterschiedliche Identitätsmerkmale3 aufweist, oder von Unvereinbarkeit geprägt wird, stellt sich das Problem der Konkordanz heraus. Welche Formel – wenn es sie denn gäbe – würde es ermöglichen, diese gegensätzlichen Kräfte nebeneinander bestehen zu lassen und gleichzeitig ihre Eigenart, ihre Identität, optimal zu bewahren? Wäre die Antwort auf diese Fragestellung mit der Integration verbunden?
Der Begriff Integration bezieht sich auf den „Fremden“, auf den „Ausländer“, denjenigen, der nicht Teil der anima collectiva4 der nationalen Einheit ist, den man „integrieren“ muss, ohne seine Identität zu opfern, oder vielmehr ihn in die kollektive Identität integrieren und dabei seine Identität bewahren soll.5 Den Begriff „Ausländer“ zu bestimmen, ist keine triviale Übung6 : Es gibt verschiedene Kategorien von Ausländern. Der „Ausländer“, den man als absoluten Ausländer bezeichnen könnte, ist der Staatsangehörige eines Drittstaates der Europäischen Union, und der relative Ausländer, der aus einem Mitgliedstaat der Union stammt und sich in Frankreich niedergelassen hat. Aus der Perspektive der Integration ist dieser diskriminierende Ansatz zwischen Ausländern und Staatsangehörigen jedoch nicht immer haltbar. Es gibt Situationen, in denen es nicht unmöglich ist, die Integration von Personen in die kollektive Identität zu hinterfragen, die zwar nicht die formalen Merkmale eines Ausländers aufweisen, aber erhebliche Schwierigkeiten erleben, sich in dem nationalen Gemeinwesen, dem sie angehören, wiederzufinden.7
Der Begriff Integration beruft sich im Übrigen auf eine Reihe von Realitäten, ohne jemals eine eindeutige Definition zu erhalten. Er gehört gleichzeitig zur Sprache der Soziologen, der Politiker und der Juristen.8 Die Integration setzt sich bis in die Intimsphäre des Einzelnen fort: So werden bestimmte Praktiken ausgeschlossen, z. B. polygame Ehen, auch wenn sie von allen Parteien akzeptiert werden. Es geht jedoch nicht darum, Ausländer in Schafe von Panurge9 zu verwandeln und sie ihrer kulturellen Eigenheiten zu berauben.
Die aktuelle Entwicklung und die französische Rechtslage liefern keine Standardantworten. Im Gegenteil, es entstehen eher neue Fragen und widersprüchliche Ergebnisse, die als Lösungen angeboten werden. Auf dem Weg zur Überlegung über Integration und Identität sind zwei Hindernisse ständig vorhanden: Erstens befinden sich die Fragen an der Grenze mehrerer Fachgebiete: Recht, Soziologie, Politikwissenschaft, Geschichte10; zweitens bleiben selbst bei einer Abgrenzung im Rahmen des Rechtssystemes Unsicherheiten bestehen, und die normativen Texte liefern nicht immer eine befriedigende Erklärung.
Die Theorie der Integration „à la française“ wird häufig als ein Prozess der einheitlichen Annäherung der Merkmale ausländischer Bevölkerungsgruppen an den Durchschnitt der Merkmale der französischen Gesellschaft verstanden, was voraussetzt, dass die französische Gesellschaft über Identifikationsmerkmale verfügt, die eine gemeinsame Durchschnittsbezeichnung – einen einheitlichen Staatskörper – bilden würden.11 Das französische Integrationsmodell weist auch „der Rolle des Staates eine große Bedeutung zu […], der die Politik der Bildung einer starken kollektiven Identität vertritt, die sich in der Idee einer französischen Nation ausdrückt […] folglich ist die Integrationspolitik an erster Stelle eine Politik des Staates“.12 Eine Identität zu identifizieren, die sich möglicherweise von der gemeinsamen Identität unterscheidet, ermöglicht es demnach, den Integrationsprozess anzudenken.
Der Begriff der Integration hat sich schrittweise in den Einbürgerungsverfahren durchgesetzt.13 Erst 1989 erreichte die „Integration“ einen gewissen institutionellen Status durch die Gründung des „Hohen Rates für Integration“ (Haut Conseil de l’intégration), einer „Reflexions- und Vorschlagsinstanz“14, mit der Aufgabe betraut, einen Jahresbericht zu verfassen und auf Anfrage der Regierung beratende Stellungnahmen zur „Integration von ausländischen Einwohnerinnen oder Einwohnern ausländischer Herkunft“ zu erstellen. Im Jahr 2004 ergänzte die „Statistische Beobachtungsstelle für Migration und Integration“ (Observatoire statistique de la migration et de l’intégration) die Aufgaben des Hohen Rates. Am 25. März 2007 beschlossen der Präsident der Republik Jacques Chirac und der Premierminister Dominique de Villepin die Gründung der Beobachtungsstelle für die Laizität (Obervatoire pour la laïcité), die am 4. April 2013 eingerichtet wurde. Diese Einrichtung, eine Art öffentliche Stelle für Laizität, ersetzt den Hohen Rat für Integration, der bereits im Dezember 2012 aufgelöst wurde.15 Hiermit wird kurioserweise eine etwas bemerkenswerte Verknüpfung zwischen der Integration von Ausländern und Menschen mit Migrationshintergrund und der Beachtung oder eher der Nichtbeachtung des Grundsatzes der Laizität hergestellt. 2021 wurde die Observatoire abgeschafft. An seine Stelle trat der Interministerielle Ausschuss für Laizität (Comité interministériel de la laïcité). Dieser wurde eingerichtet, damit „alle Verwaltungsbehörden der Ministerien, die im Gesetz zur Stärkung der Grundsätze der Republik vorgesehene Verpflichtung umsetzen, alle öffentlichen Bediensteten in den Anforderungen des Grundsatzes der Laizität auszubilden“. Die (nicht sehr subtile) Verschiebung von einem Haut Conseil à l’intégration hin zu beratenden Gremien oder interministeriellen Ausschüssen, die über die Beachtung des Laizitätsgrundsatzses wachen, unterstellt, dass die Laizität hauptsächlich von ausländischen Bevölkerungsgruppen oder Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund und vor allem auch muslimischen Glaubens in Frage gestellt wird16.
Dass der Haut Conseil de l’intégration 1989 gegründet wurde, ist keineswegs ein Zufall. Es ist das Jahr, in dem die sogenannte Kopftuch-Affäre (affaire du voile de Creil) oder vielmehr die Kopftuch-Affären in Frankreich ihren Anfang nahmen: Im Oktober 1989 wurden zwei Schülerinnen muslimischen Glaubens vom Gabriel Havez College in Creil ausgeschlossen, weil sie sich weigerten, ihr Kopftuch im Unterricht abzulegen. Ungefähr zwei Monate später, im Dezember 1989, wurde der Hohe Rat gegründet. Integration, Ausländer und Laizität bilden seither einen Dreiklang, der zur üblichen Begleiterscheinung des öffentlichen Lebens in Frankreich geworden ist. Kopftuch oder Kleidung offenbaren die Zugehörigkeit zu einer Religion (um nur die Burka17, den Burkini18, den Hijab19 oder auch die Abaya zu nennen20). Erst 2004 wurde der französische Gesetzgeber tätig und verabschiedete eine Regelung, das „in Anwendung des Grundsatzes der Laizität das Tragen von Symbolen oder Kleidungsstücken, die eine religiöse Zugehörigkeit zum Ausdruck bringen, in öffentlichen Schulen, Sekundarschulen und Gymnasien“ begrenzt.21 Im Jahr 2010 wurde die Vollverschleierung (Burka), die Gegenstand von Debatten und Fantasien aller Art war, durch ein Gesetz, das die Verhüllung des Gesichts im öffentlichen Raum verbietet, verboten (aber nicht ausdrücklich erwähnt).22 Zwar richten sich diese gesetzlichen Vorschriften nicht expressis verbis an die muslimische Religion, doch in ihrer Anwendung ist es deutlich, dass die betroffenen Personen in ihrer überwältigenden Mehrheit Angehörige dieser Religionsgruppe sind.
Heute bekommt der Begriff der Integration eine vertragliche Form für alle Ausländer, die in Frankreich einen Aufenthalt beantragen. Das Gesetz vom 7. März 201623 hat einen fünfjährigen „individualisierten Weg der republikanischen Integration“ eingeführt, der eine staatsbürgerliche und sprachliche Ausbildung umfasst und dessen erste Phase in der Vereinbarung eines Vertrags über die republikanische Integration (contrat d’intégration républicaine) mit dem Staat besteht24. Das normative Gefüge zum Schutz der Grundsätze der Republik wird durch das Gesetz vom 24. August 202125 zur Stärkung der Einhaltung der Grundsätze der Republik vervollständigt, das Antworten auf den kommunitären Rückzug und die Entwicklung des radikalen Islamismus geben will, indem es die Einhaltung der republikanischen Grundsätze stärkt und die Gesetze über die Religionen ändert. Das Gesetz von 2021 wurde nach dem Scheitern des Verfassungsentwurfs zum Schutz der Nation26 verabschiedet, der als Reaktion auf die islamistischen Anschläge in Frankreich im Jahr 2015 gedacht war. Diese Verfassungsänderung, die nie zustande kam, enthielt zwei Artikel über den Ausnahmezustand (état d’urgence) und den Entzug der Staatsangehörigkeit für in Frankreich geborene Doppelstaatsangehörige als Sanktion für Täter, die Verbrechen begehen, die einen Angriff auf das „Leben der Nation“ (atteinte à la vie de la nation) darstellen27. Das Gesetz schafft ein neues „Separatismusdelikt“ (délit de séparatisme), das gewählten Amtsträgern und öffentlichen Bediensteten Schutz vor Drohungen oder Gewalt bieten soll, damit sie eine Ausnahme oder eine differenzierte Anwendung der Regeln der öffentlichen Dienstleistungen (service public) erreichen. Es gibt keine speziellen Bestimmungen für die Lehrtätigkeit, die häufig der Kritik von Eltern ausgesetzt ist, die nicht dulden, dass ihre Kinder mit Überlegungen oder Bildern konfrontiert werden, die als unvereinbar mit ihrer Religion angesehen werden. Zwei tragische Ereignisse belegen die dringende Notwendigkeit, auf die Bedrohungen durch Individuen zu reagieren, die das Dogma einer radikalen und intoleranten Religion predigen. Als Reaktion auf die Hinrichtung des Lehrers Samuel Paty28 schafft das französische Parlament auch den Straftatbestand der Behinderung der Ausübung des Lehrerberufes (délit d’entrave à la fonction d’enseignant),29 ohne hierdurch verhindern zu können, dass ein weiterer islamistischer Terrorist Dominique Bernard30 im Oktober 2023 ermordet.
Im Jahr 2023 wurde schließlich ein Gesetzentwurf zur Steuerung der Einwanderung und Verbesserung der Integration von Ausländern heftig diskutiert. Laut der französischen Regierung zielte dieser sehr anspruchsvolle Entwurf darauf ab, eine bessere Integration von Ausländern durch Arbeit und Sprache zu gewährleisten, das System zur Abschiebung von Ausländern, die eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Ordnung darstellen, zu verbessern, die Ausbeutung von Migranten zu bestrafen und die Grenzen zu kontrollieren, eine strukturelle Reform des Asylsystems einzuleiten und die Regeln für Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Einreise, dem Aufenthalt und der Abschiebung von Ausländern zu vereinfachen. Das Gesetz „zur Steuerung der Einwanderung, Verbesserung der Integration“31, die erneut die Integrationsschwierigkeiten im Zusammenhang mit der Einwanderung widerspiegelt, wurde nach hitzigen Debatten am 19. Dezember 2023 in der Fassung des Gemischten Paritätischen Ausschusses (commission mixte paritaire) verabschiedet und trat am 26. Januar 2024 in Kraft, nachdem der Conseil constitutionnel sich zu dem Text äußern konnte, indem er einige der Bestimmungen für verfassungswidrig erklärte.32
Diese Gesetze verdeutlichen die aus Sicht des Gesetzgebers enge Verbindung zwischen ausländischen Bevölkerungsgruppen oder Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund und Problemen im Zusammenhang mit der Einhaltung der Grundsätze der Republik, insbesondere des Grundsatzes der Laizität.33 Dieser Grundsatz ist zu einem Banner geworden, das jedes Mal hochgehalten wird, wenn eine Schwachstelle im System der Integration identifiziert wird. Frankreich, erstes muslimisches Land in Europa (sieht man von der Türkei ab), „historisch strukturiert[e] durch politisch-kulturelle Prinzipien wie Laizität, Nation und Republik“34, bemüht sich, das manchmal zerbrechliche Gleichgewicht zwischen der Einhaltung dieses elastischen Verfasungsprinzips und der Religionsfreiheit aufrechtzuerhalten.
Die Maßnahmen, die die Situation der ausländischen Bevölkerung oder der Bevölkerung mit Migrationshintergrund regeln, zeugen von einem Integrationskonzept, dessen Endpunkt der Erwerb der Staatsangehörigkeit (nationalité) ist. Gegenüber dieser vorherrschenden These, nach der die Staatsangehörigkeit den Weg eines „integrierten“ Zuwanderers abschließt, vertreten andere die Auffassung, dass die Einbürgerung an sich tatsächlich ein Integrationsvektor ist, da sie Zugang zu einer Reihe von Rechten gewährt. Die Staatsangehörigkeit stelle sogar „den Prozess der sozialen Integration par excellence dar, da sie die – wenn auch nur formelle, aber ebenso notwendige – Gleichheit zwischen den Zuwanderern, die Bürger werden, und den Staatsangehörigen vor dem Gesetz gewährleistet“35. Einerseits kann man die Staatsangehörigkeit als eine „Gnade“ (faveur), ein Recht, das man sich „verdienen“ muss, oder sogar als das Genießen (plaisir), Franzose zu sein, betrachten. Andererseits ist daran zu erinnern, dass der Erwerb der französischen Staatsangehörigkeit Rechte verleiht und die Ungleichheiten zwischen Ausländern und Franzosen verringert. Auch wenn die formelle Integration durch den formellen Eintritt des Ausländers in die nationale Gemeinschaft vollzogen wird, ist es nicht ausgeschlossen, dass es auch nicht-Staatsangehörige gibt, die vollständig integriert sind. Wenn sich die Frage der Integration stellt, liegt es daran, dass Ausländer „nicht wie Staatsangehörige behandelt werden“, ihnen das Wahlrecht vorenthalten wird, ihnen bestimmte Stellen im öffentlichen Dienst verwehrt werden und sie des Staatsgebiets verwiesen werden können.
Eine Fokussierung der Analyse der Staatsangehörigkeit auf den Begriff der Integration führt jedoch dazu, dass die pragmatische Dimension des Vorgangs zugunsten einer emotionalen und sogar ideologischen Auffassung der Staatsangehörigkeit ausgeblendet wird. Die Debatte über die Beziehung zwischen Staatsangehörigkeit und Integration spiegelt eine politische und etwas ethnozentrische Herangehensweise an das Thema wider, die die soziale Unterlegenheit von Ausländern voraussetzt, die angeblich dazu neigen, unweigerlich die französische Staatsangehörigkeit erlangen zu wollen. Die Staatsangehörigkeit „muss auch im Hinblick auf die Interessen verstanden werden, die sie für den Staat hat, der sie gewährt. […] Als einzige Instanz, die die Grenze zwischen dem, der Franzose ist, und dem, der es nicht ist, ziehen kann“, verfügt der Staat über ein „Monopol auf die legitime Definition des Staatsangehörigen“36.
Diese einleitenden Bemerkungen zeigen, dass sich der Integrationsprozess in zwei Richtungen entfalten kann: eine materielle Integration durch die Ausübung bestimmter Freiheiten (Religionsfreiheit) als Garantie für die Bewahrung der individuellen Identität (B.) und eine formelle Integration, die auf die Eingliederung dieser individuellen Identität in die kollektive Identität durch die Erlangung eines dauerhaften Status innerhalb der Gemeinschaft der Bürger abzielt und die Ausübung der politischen Rechte ermöglicht, die den Staatsangehörigen vorbehalten sind (C.). Schließlich muss die Desintegration der nationalen Gemeinschaft als zeitgenössisches Phänomen betrachtet werden, das die einfache Annahme einer erfolgreichen Integration durch die Verleihung oder den Besitz der Staatsangehörigkeit zum Scheitern bringt (D.).
B. Materielle Integration als Schutzgarantie für die individuelle Identität
An dieser Stelle ist es unmöglich, alle Aspekte der materiellen Integration sowohl von Ausländern als auch von Staatsangehörigen zu berücksichtigen. Die Behandlung von Integrationsproblemen, insbesondere mit Schwerpunkt auf der Gewissensfreiheit und damit auf dem Grundsatz der Laizität, ist dagegen eine zugänglichere Aufgabe, auch wenn ihre Komplexität den Betrachter manchmal hilflos auf der Suche nach Lösungen zurücklässt, deren Umsetzung nicht zu den erwarteten Ergebnissen führt.
Die Ausübung der Gewissensfreiheit und die damit verbundene Freiheit, seine Religion auszuüben, ist eng und sogar schicksalhaft mit dem Grundsatz der Laizität verknüpft.37 Die Gewissensfreiheit wurde zunächst als ein von den Gesetzen der Republik anerkanntes wesentliches Grundprinzip verstanden38 und aus Artikel 10 der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789 hergeleitet.39
Die Laizität kommt in den gegenwärtigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen (bloc de constitutionnalité) vor: sowohl in Artikel 1 der Verfassung von 195840, als auch in Absatz 13 der Präambel der Verfassung der Vierten Republik vom 27. Oktober 194641, die ihrerseits Teil der erweiterten Präambel der Verfassung von 1958 ist. Das Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat vom 9. Dezember 1905 verwendet den Begriff „Laizität“ zwar nicht, veranschaulicht aber die Idee, indem es zwar die Gewissensfreiheit und damit die Religionsfreiheit, die Freiheit der Kultausübung und die Nichtdiskriminierung zwischen den Religionen proklamiert und die Neutralität des Staates festschreibt, zugleich aber bestimmt, dass „die Republik keine Religion anerkennt, bezahlt oder subventioniert“42. So umfasst die Gewissensfreiheit zwei Aspekte: den religiösen Aspekt, wenn sie mit dem Grundsatz der Laizität zusammenhängt, der vorschreibt, dass die Republik die freie Ausübung der Religionen gewährleistet, und den „laizistischen“ Aspekt. Das Ziel ist nicht, hier eine Archäologie dieser „französischen Einzigartigkeit“43, der Laizität, zu betreiben, sondern die Umrisse zu skizzieren, in die Personen unterschiedlicher Konfessionen integriert werden müssen, deren Ausübung manchmal unvereinbar mit der französischen Laizität erscheint.
Zwar liefert das Gesetz vom 9. Dezember 1905 keine Definition der Laizität44, aber die Rechtsprechung verdeutlicht die charakteristischen Züge: In einer Entscheidung vom 21. Februar 201345, bringt der französische Conseil constitutionnel drei wesentliche Punkte an: 1) Das Prinzip der Laizität gehört zu den von der Verfassung gewährleisteten Rechten und Freiheiten und kann im Rahmen einer vorrangigen Verfassungsfrage (question prioritaire de constitutionnalité) geltend gemacht werden (contrôle a posteriori46); 2) Als Organisationsprinzip der Republik setzt die Laizität „die Neutralität des Staates“ voraus; 3) „[D]as Prinzip der Laizität [verlangt] insbesondere die Beachtung aller Glaubensrichtungen, die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Rücksicht auf die Religion […], und dass die Republik […] die freie Ausübung der Kulte [gewährleistet]“47.
Im Hinblick auf die ausländische Bevölkerung oder die Bevölkerung mit Migrationshintergrund, ist zu prüfen, inwieweit ihnen die Ausübung ihrer Religion unter Wahrung des Grundsatzes der Laizität gewährleistet werden kann. Zwischen diesen Werten, die beide Verfassungsrang haben, ein Gleichgewicht herzustellen, ist kein einfaches Vorhaben. Die republikanische Konzeption von Integration und Laizität wird oft nicht richtig wahrgenommen, vielleicht, weil sie den Hauptkern der Freiheiten meint, der als ein Grundstock an individuellen Rechten verstanden wird, die nicht durch die kollektive Dimension der Identität eingeschränkt werden dürfen. Für Ausländer, deren Familientradition an theokratische oder totalitäre Gesellschaften anknüpft, erscheint das politische System Frankreichs zu individualistisch. Diejenigen, die vor Verfolgung geflohen sind, sehnen sich zwar nach mehr Freiheit, sehen sich aber durch die zentrale Stellung, die der individuellen Verantwortung eingeräumt wird, mit Gesetzen und Institutionen konfrontiert, die nicht selbstverständlich sind. Aber geht es wirklich darum, die Religionsfreiheit mit dem Grundsatz der Laizität oder die Religionsfreiheit mit der öffentlichen Ordnung in Einklang zu bringen?
Das zunehmende Tragen des Kopftuchs und später der Vollverschleierung sind Beispiele für die klassische Situation, in der gegensätzliche Werte miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Es geht darum, die individuelle Freiheit und insbesondere die Religionsfreiheit und die Freiheit, sich frei zu bewegen, auf der einen Seite mit der Achtung der öffentlichen Ordnung auf der anderen Seite in Einklang zu bringen. In diesem Sinne kann der Grundsatz der Laizität für sich genommen keine allgemeinen Verbote rechtfertigen. Das Laizität-Prinzip verpflichtet die öffentlichen Behörden, alle Religionen stärker zu berücksichtigen und sie gleichermaßen neutral zu behandeln; es verbietet den Menschen jedoch nicht, ihre religiösen Überzeugungen zu bekunden, solange diese nicht gegen die öffentliche Ordnung verstoßen. Laizität bedeutet nicht, dass jede Religionszugehörigkeit verneint oder missachtet wird. Die Laizität kann demzufolge nicht als alleinige Rechtfertigung für ein absolutes Verbot der Vollverschleierung herangezogen werden. Wie auch immer die Wirklichkeit ausschaut, wie viel davon Zwang und Entscheidungsfreiheit ist – oder die Verinnerlichung von Zwang als Entscheidungsfreiheit –, viele Frauen fordern das Recht, den Vollschleier zu tragen, unter Berufung auf ihre religiösen Überzeugungen ein. Auch wenn nicht ganz fernliegt, dass dies das Produkt einer mehr oder weniger verinnerlichten Unterwerfung ist und dass die Mehrheit der betroffenen Frauen Opfer einer tyrannischen Gesellschaftsordnung sind, ist fraglich, wie damit umzugehen ist, wenn sie dennoch die Meinung äußern, dass sie Kopftuch und Vollverschleierung aus freien Stücken tragen wollen. Freiwillige Unterwerfung ist zweifellos immer noch Unterwerfung, aber sie lässt sich kaum aus richterlicher Perspektive feststellen.
Ein Verbot kann sich daher nur auf den Begriff der öffentlichen Ordnung stützen, mit dem seit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 Einschränkungen bei der Ausübung der Freiheiten gerechtfertigt werden können: „Niemand soll wegen seiner Anschauungen, selbst religiöser Natur, belästigt werden, solange ihre Äußerung nicht die durch das Gesetz begründete öffentliche Ordnung stört“ (Artikel 10 der Erklärung). Es ist fraglich, ob ein Burka-Verbot den Integrationsprozess von Zuwanderern oder Nachkommen von Zuwanderern gefährden würde. Ebenso ist problematisch, ob im Namen der Integration von Bevölkerungsgruppen mit muslimischer Tradition Verhaltensweisen akzeptiert werden müssen, die potenziell mit den republikanischen Werten und Prinzipien unvereinbar sind. Wenn der Begriff Integration im öffentlichen Leben die Zuwanderer betrifft, so betrifft er die soziale Integration im Allgemeinen. Um in einer Gesellschaft von Individuen mit ihren Unterschiedlichkeiten zusammenzuleben, muss man gleichzeitig die Andersartigkeit des anderen anerkennen – ihn als anders anerkennen – und ihn als gleichwertig anerkennen.
Die spezifischen Eigenschaften von anderen Menschen anzuerkennen, bedeutet nicht, vor seiner andersartigen Persönlichkeit wegzuschauen, sondern ihnen gleichzeitig zu bekräftigen, dass sie nicht weniger gleich an Würde und Rechten sind. Es gibt jedoch Grenzen für diese Anerkennung von Besonderheiten selbst im privaten Bereich. Die Gesellschaft kann so vielfältig sein, wie es die Einzelnen wünschen, aber nur, wenn sie mit den Werten der Gleichheit und der Freiheit der Einzelnen, die die Legitimität der Bürgerschaft (citoyenneté) begründen, vereinbar bleibt, wenn sie den Grundsatz des einheitlichen Zugangs zu dem öffentlichen Raum, der durch die Institutionen und die Gewohnheiten der Gesellschaft definiert ist, nicht in Frage stellt.
Man darf nicht vergessen, dass die Gleichheit aller Religionen und Weltanschauungen keine einheitliche Behandlung ohne jede Differenzierung bedeutet. Befinden sich alle Religionen und Weltanschauungen in objektiv vergleichbaren Situationen? Die Antwort ist negativ.
Abgesehen von dem vertikalen Verhältnis zwischen dem Staat auf der einen Seite und den Individuen, die ihre Religion ausüben wollen, auf der anderen Seite, ist auch eine Art horizontale Wirkung zu berücksichtigen, die darin besteht sich gegenseitig Respekt für die Ausübung der Religion sicherzustellen. Es ist aber zweifelhaft, ob es heute zum Beispiel möglich ist, die Freiheit der Ausübung der jüdischen Religion zu gewährleisten, ohne dass sich die Individuen, die sie ausüben, von anderen Gruppen mit anderen Glaubensrichtungen bedroht fühlen (müssen).
Die mögliche Auflösung der Laizität als Gründungsprinzip der Institution der republikanischen Schule als Verbindungsstelle zwischen Staat und Gesellschaft kann die Schwierigkeiten ergänzen, die mit der Ausübung von Religion verbunden sind, die auf das republikanische Gefüge stößt. Die Laizität ist die französische Antwort auf den Säkularisierungsprozess48, durch die das Religiöse den Bereich des Politischen verlässt, was die Annahme ermöglicht, dass jeder Mensch in religiösen Angelegenheiten souverän ist. Der religiöse Glaube hängt dann weder von politischem Zwang noch von klerikalem oder familiärem Druck ab (was im Falle einer strikten Ausübung der islamischen Religion unterlaufen wird). Der Staat hat kein Monopol auf die legitime Religion und „muss sich nicht am „Krieg der Götter“ beteiligen, er muss ihn nur befrieden und steuern“49.
Aber eine „neue Säkularisierung“ scheint allmählich die Rolle der Laizität zu übernehmen, die man heute als „offen“ bezeichnen könnte.50 Diese Ideologie besagt, dass die Säkularisierung keineswegs eine Schwächung der Religionen in der Gesellschaft bedeutet, sondern im Gegenteil eine Banalisierung des Religiösen. Diese „neue Säkularisierung“ setzt sogar darauf, dass die „religiöse Erneuerung“ dem Staat und den republikanischen Institutionen wirksamer Widerstand leistet, und stellt die Säkularisierung, die auf der Seite der Freiheit steht, der Laizität gegenüber, der wegen seines Autoritarismus stigmatisiert wird. Sie argumentiert, dass die religiöse Erneuerung durch ihre „Einbettung […] in einen säkularen Hintergrund“ erleichtert wird, und stellt die neuen religiösen Ausdrucksformen als durchaus bereit dar, „sich in diversifiziertere Praktiken und Identitäten einzufügen“. Durch die individualistische Einstellung, die sie gerne einnehmen, würden diese neuen religiösen Ausdrucksformen beweisen, dass sie im Einklang mit einer säkularisierten Gesellschaft stehen, die „die soziale Selbstverständlichkeit der Religion und die Verpflichtung, sich als Gläubiger zu definieren“ ignoriert.
Es ist daher zu befürchten, dass die „neue Säkularisierung“ in Wirklichkeit eine „Ent-Säkularisierung“ ankündigt, und die Stimmen, die in der öffentlichen Debatte immer lauter werden und dazu aufrufen, das Tragen religiöser Zeichen, selbst wenn sie auffällig sind, wie das Kopftuch, auch in öffentlichen Schulen zuzulassen, sind nicht so selten. Die Präsenz der Religion in Gewohnheiten, Mentalitäten und Institutionen sowie eine Gewöhnung der Gesellschaft an die Vorschriften und die rückschrittlichsten Ansprüche bestimmter religiöser Gruppen scheinen ein unerschütterliches Prinzip zu bedrohen: den Glauben an die Laizität. Als Ergebnis politischer und ideologischer Kämpfe ist das normative Gefüge der französischen Laizität keine endgültige Errungenschaft. Sollte die als „neue Säkularisierung“ oder „offene Laizität“ getarnte Entsäkularisierung weitergehen, würde sie über kurz oder lang den Zusammenbruch der institutionellen Laizität nach sich ziehen. Es ist daher Aufgabe der Säkularisierung, sich der Herausforderung der gegenwärtigen reaktionären Tendenz zur Entsäkularisierung zu stellen. Die Zuwanderer sind die ersten, die die Kosten für den Bruch des Gesellschaftsvertrags tragen: Manche verweisen sie auf Herkunftsidentitäten auf Kosten der persönlichen Emanzipation; andere verweisen sie auf die Abstraktion des Rechts und spielen die Solidarität der Gemeinschaft herunter. In beiden Fällen führt das daraus resultierende soziale Unbehagen zu tiefen Enttäuschungen.51
Diese „neue Säkularisierung“, die sich sogar darauf verlässt, dass „die religiöse Wiederbelebung“ dem Staat und den republikanischen Institutionen wirksamen Widerstand leistet, neigt dazu, die Säkularisierung, die auf der Seite der Freiheit steht, der Laizität gegenüberzustellen, die für ihren Autoritarismus stigmatisiert wird. Sie argumentiert, dass die religiöse Erneuerung durch ihre „Einbettung […] in einen säkularen Hintergrund“ erleichtert wird, und stellt die neuen religiösen Ausdrucksformen als durchaus bereit dar, „sich in diversifiziertere Praktiken und Identitäten einzufügen“. Durch die individualistische Einstellung, die sie gerne einnehmen, würden diese neuen religiösen Ausdrucksformen beweisen, dass sie im Einklang mit einer säkularisierten Gesellschaft stehen, die „die soziale Selbstverständlichkeit der Religion und die Verpflichtung, sich als Gläubiger zu definieren“ ignoriert.
In Frankreich kam es in den letzten beiden Jahrzehnten zu gewalttätigen Ereignissen in den Vorstädten der Großstädte, zur Zunahme rassistischer und sexistischer Diskriminierung, zur Entwicklung eines religiösen und ethnischen Kommunitarismus und zu Antisemitismus. Manche sahen darin die Grenzen der republikanischen Integration; andere wiederum stellten einen Zusammenhang mit dem Ausblenden der Werte der Republik in einer Gesellschaft her, die „liberal nach amerikanischem Vorbild“ geworden ist. Beide Erklärungen enthalten ein gewisses Maß an Wahrheit. Während die Globalisierung mit der Ausweitung der Marktmacht einherging, wurde es leicht, Tiraden gegen „das republikanische Modell“ zu verbreiten. Die Ethnisierung der französischen Gesellschaft, die sich damals vollzog, kann sowohl als Scheitern der Republik als auch als Verkennung und Aufgabe ihrer Prinzipien erscheinen.
C. Formelle Integration: Die (un)mögliche Vereinbarkeit von Identität und Alterität
Jeder fühlt sich mit dem, was seine vertraute Welt bildet, verbunden, in der er seine individuelle Identität entwickelt, die mit einer globalen, kollektiven Identität zusammenhängt. Jeder findet seine Nation in seinem Inneren, als eine der verschiedenen Dimensionen seiner Identität. Die Einzigartigkeit der Nation im Vergleich zu anderen politischen Organisationsformen besteht darin, dass die staatsbürgerliche Idee und die – grundsätzlich offene – Staatsbürgerschaft letztlich Vorrang vor ethnischen oder religiösen Partikularismen, häuslicher Solidarität oder Sippenverbundenheit haben müssen. Während nur den Bürgern einer demokratischen Nation die gesamten politischen Rechte zuerkannt werden, haben alle Ausländer mit rechtmäßigem Aufenthaltsstatus, die keine Staatsbürger sind, die gleichen wirtschaftlichen und sozialen Rechte wie die Staatsangehörigen. Dies ist die zweite universelle Dimension der modernen Staatsbürgerschaft. Dem Ausländer können die Menschenrechte nicht vorenthalten werden, da er nicht weniger Mensch ist als der Staatsangehörige. Aber ist er weniger Bürger als der Staatsangehörige?52
Die formelle Integration wirft die Frage nach der Beziehung zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft auf53, die „in Frankreich sowohl eine altbekannte als auch eine aktuelle Debatte“54 darstellt. „Die Staatsangehörigkeit kann keine automatische Integration gewährleisten“, die sich aus dem Zusammenspiel zahlreicher Faktoren ergibt. Die Staatsangehörigkeit zu erwerben bedeutet vor allem, die Möglichkeit zu erhalten, die politischen Rechte auszuüben, die eine vollkommene Beteiligung an der politischen Willensbildung und damit an der politischen Entscheidungsfindung ermöglichen. Hier muss jedoch ein anderer Begriff eingeführt werden, der zwar mit dem der Staatsangehörigkeit verwandt ist und manchmal als Synonym verwendet wird, aber wichtige Nuancen verrät: Die Staatsbürgerschaft bedeutet den Genuss der politischen und staatsbürgerlichen Rechte, lässt sich aber nicht nur auf diese Definition reduzieren.55
Die Staatsbürgerschaft bezeichnet die politische Zugehörigkeit des Einzelnen, der sich in ein politisches Gefüge einordnet, das ihm die Ausübung von Rechten ermöglicht, die ebenfalls als politisch bezeichnet werden: Er nimmt am politischen Entscheidungsprozess teil. Die Staatsbürgerschaft besteht aus drei sich ergänzenden Komponenten: Sie wird zunächst als „Gleichheit der Rechte“ als Verbot von Diskriminierung verstanden; sie wird auch als „die Fähigkeit, an Entscheidungen in einer Reihe unterschiedlicher, nicht auf das Politische beschränkter Bereiche teilzunehmen“ verstanden; schließlich stellt sie „die Teilhabe an der nationalen Souveränität dar, die den vollen und uneingeschränkten Genuss der politischen Rechte mit sich bringt“.56 Die Staatsangehörigkeit setzt eine engere Bindung, eine Abstammung aus biologischen (jus sanguinis, Blutrecht) oder geografischen (jus soli, Bodenrecht) Gründen zur Nation voraus. Die Verwandtschaften zwischen den beiden Begriffen sind jedoch unklar, und manchmal ist es unmöglich, sie durch die Aufstellung mehr oder weniger zuverlässiger Kriterien voneinander zu trennen. Die Staatsbürgerschaft setzt die rationale, reflektierte Teilnahme am politischen Leben des Staates voraus, während die Staatsangehörigkeit (Nationalität) entsprechend der Etymologie des französischen Wortes57 das biologoische, organische, und unter bestimmten Umständen vielleicht irrationale Merkmal der Zugehörigkeit zur Nation des Einzelnen verrät, der sich, wenn er im Staatsgebiet geboren ist und/oder Eltern französischer Staatsangehörigkeit hat, nicht selbst ab initio für diese Abstammung entschieden hat, auf die er verzichten kann, wenn er bestimmte Bedingungen erfüllt. Die Dichotomie zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft verliert jedoch an Relevanz, wenn man anerkennt, dass die Nation nicht nur eine Gemeinschaft ist, die durch Blutsverwandtschaft gefestigt ist oder einen bestimmten geografischen Raum gemeinsam hat: „Es ist weder die Rasse noch die Sprache, die die Nationalität ausmachen, sondern eine Gemeinschaft von Ideen, Interessen, Zuneigung, Erinnerungen, Hoffnungen“.58 Die Staatsangehörigkeit ist nicht nur eine rechtliche Bindung, sondern kann auch als „eine Mentalität“ aufgefasst werden: „Ein Ausländer ist assimiliert (assimilé), nicht wenn er die gleichen Vorstellungen hat wie ein Staatsangehöriger, denn die Vorstellungen sind auch unter Staatsangehörigen verschieden, sondern wenn er die gleiche Mentalität erworben hat, d.h. die gleiche Wendung des Geistes, die gleiche Art, alle Vorstellungen zu betrachten. Eine Nationalität ist eine Mentalität […] und direkt aus dieser gemeinsamen Mentalität ergibt sich die nationale moralische Einheit, die ihrerseits die Gemeinschaft hervorbringt“.59 Die Frage wäre, ob die Bewerber um die Staatsangehörigkeit diese Mentalität überhaupt ansprechen, um formell in sie integriert werden zu können.
Der staatsangehörige Bürger (national-citoyen)60 vereint in sich diese beiden Abstammungsarten und stellt das konstitutive Element des französischen politischen Raums dar61. In der jüngeren politischen Geschichte gibt es jedoch auch Beispiele für Staatsangehörige, die keine gleichberechtigten Bürger waren.62 Als Beispiel sei hier nur das Wahlrecht genannt, das den französischen Frauen erst 1944 zugestanden wurde.63 Es ist auch möglich, einige der politischen Rechte eines Bürgers auszuüben, ohne die Staatsangehörigkeit des Staates zu besitzen. In Frankreich ansässige EU-Bürger sind bei den Europa- und Kommunalwahlen wahlberechtigt und wählbar, können jedoch nicht an den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen teilnehmen oder direkt Senatoren wählen, da es sich um Wahlen handelt, die direkt oder indirekt an der Ausübung der nationalen Souveränität beteiligt sind.64 Jedes politische Organisationssystem schließt die eigenen Staatsangehörigen ein und schließt die Ausländer aus. Der interne Integrationsprozess kann die nationalen Interessen, die Beziehungen zwischen den Nationen, nicht unberücksichtigt lassen. Das Staatsangehörigkeitsrecht löst die Probleme, die marginale Bevölkerungsgruppen aufwerfen, indem es rechtlich zwischen Staatsangehörigen und Ausländern unterscheidet und die Bedingungen festlegt, unter denen man von einem Status in den anderen wechselt.
Bereits die Französische Revolution verlieh dem Begriff der Staatsangehörigkeit (Nationalität) einen politischen Sinngehalt – die Staatsbürgerschaft (citoyenneté)65 – , indem sie die Anerkennung der revolutionären Ideen zum Kennzeichen der Zugehörigkeit eines jeden Ausländers zum politischen Gemeinwesen Frankreichs machte. Der „Franzose“ wird zum ersten Mal definiert, und während das Wort Staatsangehörigkeit (Nationalität)‚ noch nicht existiert, wird der Ausdruck „qualité de Français“66 vorgezogen. Nach 1791 ist jeder Mensch, der diesen Ideen treu bleibt, unabhängig von seiner Herkunft, würdig, Bürger zu sein, und leistet den Bürgereid, der das Ideal der Universalität der Gesetzgebenden Versammlung verkörpert.67 Es ist möglich, eine Brücke zwischen dem revolutionären Ideal und den gegenwärtigen Grundsätzen der Republik zu ziehen, die den genetischen Code des heutigen Frankreichs bilden. Es geht kaum darum, sich nur das Motto „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zu eigen zu machen, sondern vielmehr darum, sich mit einer bestimmten Weltanschauung, einer Lebensweise und den Regeln des Zusammenlebens in der französischen Gesellschaft – sowohl in kultureller als auch in politischer Hinsicht – zu identifizieren.68 Ein weiteres Detail ist bemerkenswert: Die Prinzipien, die wir heute als „republikanisch“ bezeichnen, entstehen und nehmen Gestalt an im Rahmen der konstitutionellen Monarchie, die in der Verfassung vom 3. September 1791 verankert ist: Aus der Asche des monarchischen Regimes bildet sich allmählich das Hauptmerkmal Frankreichs heraus – seine republikanische Form.69
Heute wird die Republik von den Zuwanderungsbewegungen, den jüngsten Demonstrationen zur Verteidigung der palästinensischen Frage70 und ihrer Identifikation mit einer ausländischen Bevölkerung oder einer Bevölkerung mit Migrationshintergrund, die von einigen als Bedrohung für die republikanische Identität wahrgenommen wird und die erneut das Gespenst des Volksentscheids über die Zuwanderungsfrage heraufbeschworen hat : Die nationale Gemeinschaft, oder vielmehr ein Teil davon, getragen vom Atem populistischer Bewegungen auf der Suche nach einem Sündenbock für die Probleme, unter denen die gespaltene Gesellschaft leidet, will sich des Schicksals von Personen annehmen, die (noch) nicht zu ihr gehören, indem sie alle Mittel einsetzt, um ihre Inthronisierung als Staatsangehörige zu verhindern oder zumindest die Rechte zu beschränken, die sie als Ausländer auf französischem Boden genießen.71 Die Frage lautet im Wesentlichen, ob die Staatsangehörigen letztlich darüber (durch ein Volksentscheid) bestimmen sollen, wer zu der französischen Nation gehören wird? Dies bedeutet, wer in Zukunft in rechtlicher und damit formeller Hinsicht dem Staat angehören wird, da die Staatsangehörigkeit diese rechtliche Verbindung zwischen einer Einzelperson und dem Staat verwirklicht.
In diesem Sinne stellt der Erwerb der Staatsangehörigkeit des Staates, in dem sie sich dauerhaft aufhalten, für Ausländer entweder die letzte Stufe der formellen Integration und damit den Beginn der formellen Zugehörigkeit zur kollektiven Identität oder die Trennung der individuellen Identität von der kollektiven Zugehörigkeit dar. Als rechtliches Bindeglied zwischen einem Staat und einem Individuum ist die Staatsangehörigkeit ein Begriff, der auch innerstaatlich als ein Status des Individuums betrachtet werden muss. Der Ausländer ist immer auf der Suche nach der Anerkennung seiner eigenen, in die nationale Identität integrierten Identität durch den Staat.
In Frankreich bestehen verschiedene Wege, um die französische Staatsbürgerschaft zu erwerben.72 Durch Zuerkennung: das Blutrecht, das Bodenrecht73, und durch Erwerb (naturalisation). Die Staatsangehörigkeit wird verliehen, wenn sie automatisch erworben wird: von Geburt an jedes in Frankreich oder im Ausland geborene Kind, von dem mindestens einer der Eltern Franzose ist (Blutrecht)74, jedes in Frankreich geborene Kind von zwei staatenlosen Eltern, jedes in Frankreich geborene Kind, von dem mindestens einer der Eltern ebenfalls in Frankreich geboren ist (doppeltes Bodenrecht).75 Die Staatsangehörigkeit kann auch mit der Volljährigkeit verliehen werden, wenn ein Kind in Frankreich von zwei ausländischen Eltern geboren wurde.76 Die Einbürgerung ist eine Art des Erwerbs, die durch eine Entscheidung der öffentlichen Behörde (Dekret) erfolgt und unter bestimmten Bedingungen gewährt wird, insbesondere einem gewöhnlichen Aufenthalt auf französischem Staatsgebiet seit mindestens fünf Jahren oder durch Eheschließung. Die Entscheidung wird von der Verwaltung nach eigenem Ermessen getroffen, die die Einbürgerung auch dann ablehnen kann, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind.77 Wer die französische Staatsbürgerschaft erwerben möchte, muss jedoch in einem persönlichen Gespräch seine „Assimilation an die französische Gemeinschaft“ nachweisen und die Charta der Rechte und Pflichten des französischen Staatsbürgers78 unterzeichnen.
Reicht der einseitige Wille des Staates aus, um einen Franzosen „zu erzeugen“, auch wenn seine Zugehörigkeit zu einer anderen sozialen und kulturellen Gemeinschaft geht? Ist der Prozess der Einbürgerung eine Art Kundenvertrag, den man unterschreibt, ohne die Klauseln zu lesen? Das Aufenthaltsrecht zu gewähren, die Ausübung wirtschaftlicher und sozialer Rechte zu gewährleisten, ohne das Recht zu verleihen, zu wählen und sich voll am politischen Leben zu beteiligen, bedeutet, Bürger zweiter Klasse hervorzubringen, die nicht wie andere ihre Rechte durch politisches Handeln verteidigen können. Ist das Bild des Ausländers, der sich den Regeln unterwirft, um auf dem Staatsgebiet bleiben zu dürfen, nicht ein Überbleibsel der immer unausgewogenen, vertikalen Beziehung zwischen dem Staat, der Staatsgewalt, und dem ausländischen Einzelnen, der zum Objekt wird, ohne an der politischen Entscheidung der Staatsgewalt teilnehmen zu können, die auf ihn ausgeübt wird, oder Teil der demokratischen Legitimationskette der Organe zu sein, die mit der Staatsgewalt ausgestattet sind?
Zwar ist jeder Bürger prinzipiell ein Staatsangehöriger, aber nicht jeder Staatsangehörige ist zwangsläufig auch ein Bürger79. In Frankreich hat sich dieser Grundsatz kaum verändert, außer durch die Entstehung einer Unionsbürgerschaft, die die Ausübung bestimmter politischer Rechte teilweise vom Besitz der Staatsangehörigkeit entkoppelt hat80. In diesem Sinne bleibt der nichtstaatliche EU-Bürger rechtlich ein relativer Ausländer, da seine territorialen Rechte kontingent bleiben. Er kann seine bürgerlichen und politischen Rechte nicht umfassend ausüben, da er nur an Kommunal- und Europawahlen teilnehmen kann, aber keinen Zugang zu nationalen Wahlen hat. Das diskriminierende Kriterium der Staatsangehörigkeit behält somit seine Relevanz und Aktualität im Ausländerrecht, auch im Rahmen der Europäischen Union.
D. Desintegration als Schlussfolgerung
Es wird immer schwieriger, auf das unüberwindbare Problem der Integration zu antworten, die unter dem Doppelzwang steht, die Identität von Personen zu wahren, die zwar formell durch ihre Geburt oder nach Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft integriert sind, aber nicht zur nationalen Gemeinschaft und zur kollektiven Identität gehören, und zu bestimmten Zeiten den sozialen Frieden zu wahren.
Die formelle Integration reicht offensichtlich nicht aus, um einen Integrationsprozess und das Bekenntnis zu den republikanischen Traditionen und Grundsätzen zu gewährleisten. Hieraus lässt sich aber nicht zweifelsfrei schließen, dass die Integration gescheitert ist. Der formelle Eintritt in die Nation ermöglicht es vor allem, das politische Gewand des Staatsbürgers anzulegen. Das Einbürgerungsverfahren kann aber niemals eine „Seelenschau“ ermöglichen, um herauszufinden, ob ein Bewerber um die Staatsangehörigkeit wirklich willens ist, „Republikaner“ zu werden, den Grundsatz der Laizität zu respektieren oder sich mit der Existenz einer Meinungsfreiheit zu versöhnen, die ihre eigenen religiösen oder kulturellen Empfindlichkeiten verletzen kann. Wenn das Integrationskonzept gescheitert ist, liegt dies vielmehr in der Ausblendung der wesentlichen Unterschiede zwischen der Weltanschauung, der Mentalität (mentalité) von eingebürgerten Individuen und den republikanischen Grundwerten. Die Randstellung oder der Wunsch, die republikanischen Grundsätze mit Gewalt durchzusetzen, ohne dass pädagogisch aufgeklärt, erklärt und die tiefen Brüche verstanden werden, birgt die Gefahr, dass die Gräben der Desintegration der nationalen Gemeinschaft noch weiter vertieft werden. Die angebliche Existenz von „Papierfranzosen“ (Français de papier) würde bedeuten, dass wir zwischen „echten“ und „falschen“ Franzosen unterscheiden, die nur die formellen Merkmale der Zugehörigkeit aufweisen, aber materiell nie zu französischen Staatsangehörigen werden können81. Diese Spaltung trägt dazu bei, das Gemeinschaftsgefühl bestimmter Bevölkerungsgruppen zu verstärken, denen der Eintritt in die Nation verwehrt wird.
Allerdings stellt sich auch die Frage der Integration der eigenen Staatsangehörigen. Genauso wie es schwierig ist, die erfolgreiche Integration ausländischer Bevölkerungsgruppen durch die Verleihung der Staatsbürgerschaft zu gewährleisten, kann es sein, dass Personen, die bereits die französische Staatsbürgerschaft besitzen, sich weder in dem kulturellen System noch in der Gesellschaft, der sie formell angehören sollen, wiedererkennen und das gemeinsame Wertegefüge zu verlassen wünschen.
Daher noch etwas Persönliches zum Schluss. Die Autorin dieser Zeilen ist eine „Ausländerin“, die neben der bulgarischen Kultur, in die sie hineingeboren wurde, auch andere Kulturen – die französische und die deutsche – als ihre eigene anerkennt. Für mich und einer großen Zahl kulturübergreifender Ausländer zählt oft nur, angesichts seiner Fremdheit ein gewisses Recht auf Gleichgültigkeit zu gewinnen, sei sie nun materiell, aufgrund von Traditionen, die sich von denen der Republik unterscheiden (aber trotzdem nicht antagonistisch sind), oder formell, aufgrund der fehlenden „carte d’identité“82, dem ersten bürokratischen Symbol der Zugehörigkeit zu einem großen Migrationsland – Frankreich.
- Dictionnaire Gaffiot, latin-français, 1934, S. 836. [↩]
- Eintrag intégrer, Centre national de ressources textuelles et lexicales, https://www.cnrtl.fr/definition/academie8/int%C3%A9grer. Die Grenzen der Definition können unter Rückgriff auf die Sozialwissenschaften skizziert werden: „Es ist der Grad des Zusammenhaltes des Ganzen, den zu bemessen wichtig erscheint. Dabei kann es sich um die Integration von Kindern in die Gesellschaft, die Integration von Einwanderern, die Integration in eine neue Nation oder den Konsens und die Beteiligung der Bürger am Leben der Gemeinschaft handeln“ (M. Grawitz, Lexique des sciences sociales, 1988, S. 215). [↩]
- D. Schnapper, Quelle politique multiculturelle?, Le Débat, n°186, 2015, S. 111 f.: „Es wird gerne behauptet, das „republikanische Modell“ stecke in einer Krise, so dass es nun nicht mehr in der Lage ist, die neuen Einwanderer und ihre Kinder in die französische Gesellschaft zu integrieren. […] Weder in Frankreich noch in Deutschland oder Großbritannien wurden einzelnen Gruppen kollektive Rechte gewährt. Die Demokratie beruht auf der Gleichheit aller Bürger“. [↩]
- N. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, 2001, S. 20-21: „Zuweilen schreibt man […] ganzen Gesellschaftsverbänden oder einer Masse von Menschen eine eigene Seele jenseits der individuellen Seelen zu, eine anima collectiva oder ein ‚group mind‘“. Die Unterschiede zwischen den Individuen, die die Gesellschaft bilden, bestehen nicht nur im Besitz oder Fehlen eines Personalausweises, der gleichen Nationalität oder sogar der Sprache, sondern können auch das Ergebnis eines antagonistischen persönlichen, kulturellen oder wirtschaftlichen Hintergrunds sein: „Was uns fehlt – machen wir uns das ruhig klar -, sind Denkmodelle und eine Gesamtvision, kraft deren wir uns beim Nachdenken verständlich zu machen vermögen, was wir in Wirklichkeit täglich vor Augen haben, kraft deren wir uns verständlich machen können, wie die vielen einzelnen Menschen miteinander etwas bilden, das mehr, das etwas anderes ist als viele einzelne Menschen zusammen – wie sie eine ‚Gesellschaft‘ bilden […]“. [↩]
- Ohne der Versuchung nachgeben zu wollen, Jürgen Habermas umfangreich zu zitieren, ist diese Überlegung relevant: J. Habermas, Hat der Nationalstaat eine Zukunft?, in: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, 2. Aufl., 1997, S. 172: „Das Problem der ‚geborenen‘ Minderheiten erklärt sich aus Umstand, daß Bürger, auch als Rechtspersonen betrachtet, keine abstrakten, von ihren Herkunftsbezügen abgeschnittenen Individuen sind. Soweit das Recht in ethisch-politische Fragen eingreift, berührt es die Integrität der Lebensformen, in die die persönliche Lebensgestaltung eingebettet ist.“ [↩]
- D. Lochak, Étrangers: de quel droit?, 1985, S. 41-42: „Sobald man nicht mehr nur die kollektiven Vorstellungen, die mit dem Ausländer verbunden sind, und die Vielfältigkeit seiner Figuren wiedergeben will, sondern versucht, die Konturen des Begriffs genauer zu bestimmen, wird man zwangsläufig auf das Recht verwiesen; die Definition des Ausländers als Kategorie, insofern sie ein Mindestmaß an Begriffsbildung voraussetzt, bringt immer, in unterschiedlichem Maße, das von der Rechtswissenschaft geprägte System ins Spiel, das allein eine klare Antwort auf die doppelte Frage ermöglicht: Was ist ein Ausländer, wer ist Ausländer? […] Die Frage: Was ist ein Ausländer? wirft das Problem der relevanten Gemeinschaft auf, in Bezug auf die die Fremdheit, also die Eigenschaft des Ausländers, bestimmt wird […]“. [↩]
- Dabei kann es sich um Schwierigkeiten handeln, die mit kulturellen, aber auch mit ideologischen Gewohnheiten zusammenhängen. In Deutschland veranschaulicht der Fall der Reichsbürger den Sonderfall dieser nationalen Ausländer, die sich nicht mit dem System der Bundesrepublik Deutschland identifizieren, das ihrer Ideologie zufolge nur als Trugbild existiert, das nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Asche des Kaiserreichs entstanden ist. S. in französischer Sprache, C. Schönberger/S. Schönberger: Nier la Constitution. Le cas des Reichsbürger, Pouvoirs, n°187, 2023, S. 101-112; in deutscher Sprache, von dens. (Hrsg.), Die Reichsbürger. Verfassungsfeinde zwischen Staatsverweigerung und Verschwörungstheori, 2019; von dens., Die Reichsbürger. Ermächtigungsversuche einer gespenstischen Bewegung, 2023. [↩]
- E. Durkheim (De la division du travail social, Buch I, 1893, S. 102) stellt das Problem der Integration in moderne Gesellschaften dar: „Nicht nur lieben und suchen sich die Bürger untereinander vorzugsweise gegenüber den Ausländern, sondern sie lieben auch ihr Heimatland“. Für D. Schnapper, Qu’est-ce que l’intégration, 2007, S. 28 f., die sich auf Durkheim bezieht, „reicht die gemeinsame Staatsbürgerschaft allein, die durch gleiche bürgerliche, rechtliche und politische Rechte definiert ist, nicht aus, um die soziale Bindung konkret zu gewährleisten. Die aus der Staatsbürgerschaft entstehende abstrakte Solidarität muss auch auf der Gesamtheit des Austauschs zwischen den Individuen beruhen“. [↩]
- Der vom F. Rablais (Le Quart Livre des faits et dits héroïques du bon Pantagruel [1552]) stammende Ausdruck ‚Schafe von Panurge‘ bezeichnet einen Menschen, der anderen folgt, ohne Frage zu stellen, und sich so zu einer kollektiven Bewegung zusammenschließt. [↩]
- Es ist generell unmöglich, über Fragen der Integration und Identität nachzudenken, ohne einen soziologischen Blickwinkel einzunehmen. An dieser Stelle sei auf die wichtigen und unentbehrlichen Arbeiten von D. Schnapper hinzuweisen, die eine große Spezialistin auf diesem Gebiet ist: siehe z. B. La France de l’intégration. Sociologie de la nation en 1990, 1991; Qu’est-ce que l’intégration?, 2007; dies. (unter Mitarbeit von C. Bachelier), Qu’est-ce que la citoyenneté?, 2000. Vgl. auch M. Boucher, Les théories de l’intégration. Entre universalisme et différentialisme – Des débats sociologiques et politiques en France, 2000; B. Falga/C. Withol de Wenden/C. Leggewie, De l’immigration à l’intégration en France et en Allemagne, 1994; S. Beaud, La France des Belhoumi – Portraits de famille (1977-2017), 2018; D. Lochak (Fn. 6). [↩]
- Diese Homogenität und die Existenz eines einheitlichen Ganzen sind jedoch nur eine Illusion; D. Schnapper (Fn. 3): „ Alle nationalen Gesellschaften sind per Definition objektiv multikulturell, da sie Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlicher Herkunft, Glauben und sozialen Bedingungen zu einer einzigen politischen Einheit zusammenführen“ (S. 111); „Die französische Tradition […] ist die Integration im aktiven oder historischen Sinne des Wortes, um ein politisches Projekt herum, das aus den von der Revolution verkörperten Werten hervorgegangen ist und auf dem Prinzip und bis zu einem gewissen Grad auch auf der Praxis der individuellen Staatsbürgerschaft (citoyenneté) beruht“ (S. 113). [↩]
- M. Boucher (Fn. 10), S. 40. [↩]
- C. Zalc, La naturalisation acte vecteur d’intégration? Retour sur l’histoire du débat dans le premier XXe siècle, Pouvoirs, Nr. 160, S. 47-60, insb. S. 47 f. [↩]
- Der Haut Conseil de l’intégration wurde von der Regierung Michel Rocards unter der Präsidentschaft François Mitterrands eingerichtet. [↩]
- „Seit dem 24. Dezember 2012 sind der Präsident und die Mitglieder des Kollegiums des HCI nicht mehr im Dienst. Ab diesem Datum und in Abwesenheit des Kollegiums ist der HCI daher nicht mehr in der Lage, Stellungnahmen zu erstellen oder Berichte zu veröffentlichen“, konnte man auf der Website des Haut Conseil de l’intégration lesen. [↩]
- P. Raynaud, La laïcité. Histoire d’une singularité française, 2019, S. 185: „In den Augen eines wesentlichen Teils der heutigen öffentlichen Meinung neigt die Frage nach der Laizität dazu, sich mit der Frage nach dem Platz des Islam in der französischen Gesellschaft zu vermischen. Für die optimistischsten ‘Laizisten’ ist die Laizität der Schlüssel zum künftigen Erfolg der ‘Integration’. Es ist jedoch nicht immer klar, ob dies daran liegt, dass die Laizität dem Islam einen zufriedenstellenden Rahmen für seine friedliche Entfaltung bieten wird, oder daran, dass er auf den Islam die gleiche neutralisierende Wirkung haben wird, die er auf die anderen Religionen hatte. […] Die neue Frage, die der Islam aufwirft, ist nicht, ob der säkulare Staat den Muslimen die Rechte zuerkennen kann, die allen französischen Bürgern zustehen, was im republikanischen Rahmen niemand in Frage stellen kann, sondern ob der Islam seinen Platz finden kann, ohne einen anderen Status als die anderen Religionen zu genießen“. Vgl. auch: A. Besançon, Problèmes religieux contemporains, 2012 und J. Baubérot, Histoire de la laïcité en France, 7. Aufl., 2017. [↩]
- D. Schnapper, Par-delà la burka : les politiques d’intégration, Études 2010, S. 461 f. [↩]
- J. de Gliniasty, Laïcité dans les piscines municipales : entre principe juridique et argument politique, Revue des droits et libertés fondamentaux, 2022, chronique n°33 (en ligne : https://revuedlf.com/droit-administratif/laicite-dans-les-piscines-municipales-entre-principe-juridique-et-argument-politique-ce-ord-21-juin-2022-commune-de-grenoble/). Mehrere Gemeindeverordnungen (arrêtés municipaux) hatten den Burkini verboten. Der Conseil d’État setzte ihre Anwendung aus, da keine aktuelle und nachgewiesene Gefahr für die öffentliche Ordnung bestanden habe (z.B. Conseil d’État, 17.07. 2023, Ligue des droits de l’homme, RS Nr. 475636). [↩]
- Das Verbot des islamischen Kopftuchs oder der Hijab wurde beispielsweise vom französischen Fußballverband bei Frauenfußballwettbewerben erlassen und führte zu heftigen Diskussionen und dem Vorwurf der Ausgrenzung von Frauen, die dieses Element der islamischen religiösen Kleidung tragen (Conseil d’État, 29.06.2023, Associations Alliance citoyenne et Contre Attaque, RS Nr. 458088, 459547 et 463408). [↩]
- Am 31. August 2023 stellt Gabriel Attal, Minister für Bildung und Jugend in einem Rundschreiben an die Schulleiter ; an die Inspektoren des Bildungsministeriums und an den Schuldirektoren (Respect des valeurs de la République, https://www.education.gouv.fr/bo/2023/Hebdo32/MENG2323654N) fest, dass das Tragen der Abaya oder des Qamis in öffentlichen Schulen, Collèges und Gymnasien eine auffällige Äußerung der Religionszugehörigkeit darstelle, die gemäß Artikel L. 141-5-1 des Gesetzbuchs über das Bildungswesen, das aus dem Gesetz vom 15. März 2004 hervorgegangen ist, verboten sei. Die Verwaltungsmaßnahme war Gegenstand zweier aufeinanderfolgender Verfahren in Form einer référé-liberté (freiheitssichernde einstweilige Anordnungsverfahren) und einer référé-suspension (Eilverfahren zur Aussetzung) vor dem Conseil d’État (Staatsrat). Die Verwaltungsrichter lehnten beide Anträge mit der Begründung ab, dass das Tragen der Abaya oder des Qamis eine religiöse Bekräftigung darstelle, die gesetzlich verboten sei. Als Gabriel Attal zu seiner Entscheidung befragt und beschuldigt wurde, eine Politik gegen die muslimische Religion zu betreiben, erklärte er im Oktober 2023: „Ich treffe keine Maßnahmen gegen den Islam, ich treffe lediglich Maßnahmen zugunsten der Laizität“. [↩]
- Art. 1 des Gesetzes Nr. 2004-228 vom 15.03. 2004: „In öffentlichen Schulen, Sekundarschulen und Gymnasien ist das Tragen von Symbolen oder Kleidungsstücken, mit denen die Schüler ihre Religionszugehörigkeit auffällig zum Ausdruck bringen, verbotenEilverfahren zur Aussetzung (eingefügt als Artikel L. 141-5-1 in das Gesetzbuch über das Bildungswesen [Code de l’éducation]). [↩]
- Art.1 des Gesetzes Nr. 2010-1192 vom 11.10. 2010: „Niemand darf im öffentlichen Raum ein Kleidungsstück tragen, das dazu bestimmt ist, sein Gesicht zu verbergen“. Zum Grundsatz der Laizität im Bildungswesen: B. Toulemonde, Laïcité et le droit. Laïcité de l’enseignement, S. 23-28, insb. S. 27 und P. Claus, „L’école et l’enseignement des faits religieux“, S. 29-33, Administration & Education 2016, Nr. 151; D. de Béchillon, Voile intégral : éloge du Conseil d’État en théoricien des droits fondamentaux, Revue française de droit administratif, 2010, S. 467 f. [↩]
- Gesetz Nr. 216-274 vom 7.03. 2016 zum Ausländerrecht. [↩]
- https://www.ofii.fr/wp-content/uploads/2020/12/CIR-CONTRAT.pdf [↩]
- Gesetz Nr. 2021-1109 vom 24.08. 2021. [↩]
- Entwurf eines Verfassungsgesetzes zum Schutz der Nation, vorgelegt im Namen von François Hollande, Präsident der Republik, Herrn Manuel Valls, Premierminister, und von Christiane Taubira, garde des sceaux, Justizministerin, registriert bei der Präsidentschaft der Nationalversammlung am 23. Dezember 2015. (https://www.assemblee-nationale.fr/14/projets/pl3381.asp). [↩]
- Art. 2 des Gesetzes zur Änderung von Artikel 34 der Verfassung vom 4. Oktober 1958: „[…] die Staatsangehörigkeit, einschließlich der Bedingungen, unter denen eine als Franzose gebürtigen Person, die eine andere Staatsangehörigkeit besitzt, die französische Staatsangehörigkeit entzogen werden kann, wenn sie wegen eines Verbrechens verurteilt wird, das einen schweren Angriff auf das Leben der Nation darstellt“. [↩]
- Die Ermordung von Samuel Paty (auch „Anschlag von Conflans-Sainte-Honorine“) war ein islamistischer Terroranschlag, der am 16. Oktober 2020 begangen wurde. Das Opfer, ein Lehrer für Geschichte und Geografie, wurde von einem russischen Staatsbürger tschetschenischer Herkunft ermordet, der auf französischem Staatsgebiet den Flüchtlingsstatus genoss. Der Grund für die Ermordung war, dass Samuel Paty im Rahmen einer Unterrichtsstunde zum Thema Meinungsfreiheit zwei Karikaturen des Propheten Mohammed ausgestellt hatte, die in der Satirezeitung Charlie Hebdo veröffentlicht worden waren. [↩]
- Art. 10 des Gesetzes Nr. 2021-1109 vom 24.08. 2021 zur Ergänzung von Artikel 431-1 des Strafgesetzbuchs: „Die Beeinträchtigung der Ausübung der Lehrtätigkeit auf abgestimmte Weise und mithilfe von Drohungen wird mit einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 15 000 Euro bestraft“. [↩]
- Der Französischlehrer Dominique Bernard wurde am 13. Oktober 2023 auf dem Schulhof seines Gymnasiums von einem Terroristen ermordet, der seit dem 1. Februar 2021 beim französischen Geheimdienst wegen islamistischer Radikalisierung eingetragen war. [↩]
- Gesetz Nr. 2024-42 vom 26.01.2024. [↩]
- Conseil constitutionnel, Entscheidung Nr.2023-863 DC vom 25.01.2024, Loi pour contrôler l’immigration, améliorer l’intégration [teilweise Verfassungswidrigkeit – Vorbehalt]. S. auch J. Lepoutre, La nationalité dans la loi du 26 janvier 2024: une apparition éphémère, des questions persistantes, Revue critique de droit international privé, 2024, S. 283 ff. [↩]
- Für einen Überblick: Y. Gaudemet, La laïcité en droit français, Commentaire 2021, Nr. 174, S. 245-254, mit zusätzlichen bibliographischen Hinweisen, insbesondere S. 245: „In Frankreich wird wieder die große Fahne der Laizität entfaltet, die überall und für jeden Zweck geschwungen wird. […] Diese Laizität, die wie ein politisches Schlagwort, wenn nicht gar, wie ein Slogan anmutet, wird, zweifellos zugunsten des Reimes, gerne neben die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gestellt, die von der Verfassung von 1848 geerbt wurden, und so in den höchsten Rang der Werte der Republik erhoben“; M. Barbier, Pour une définition de la laïcité française, Le Débat, Nr. 134, 2005, S. 130 f. [↩]
- M. Boucher (Fn. 10), S. 13. [↩]
- C. Zalc (Fn. 13), S. 47 f. [↩]
- C. Zalc (Fn. 13), S. 51 f. [↩]
- D. Schnapper, De la démocratie en France – République, nation, laïcité, 2017. [↩]
- Conseil constitutionnel, Entscheidung Nr. 77-87 DC vom 23. 11. 1977, Loi complémentaire à la loi n°59-1557 du 31 décembre 1959 modifiée par la loi n°71-400 du 1er juin 1971 et relative à la liberté de l’enseignement, Erwägungsgrund 5 : „Andererseits wird in Artikel 10 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 festgehalten, dass „niemand wegen seiner Ansichten, auch nicht der religiösen, beunruhigt werden darf, solange ihre Äußerung nicht die durch das Gesetz festgelegte öffentliche Ordnung stört“; dass die Präambel der Verfassung von 1946 daran erinnert, dass „niemand wegen seiner Herkunft, seiner Meinungen oder seines Glaubens in seiner Arbeit oder Beschäftigung benachteiligt werden darf“; dass die Gewissensfreiheit somit als eines der durch die Gesetze der Republik anerkannten Grundprinzipien zu betrachten ist […]“. [↩]
- Conseil constitutionnel, Entscheidung Nr. 2017-695 QPC vom 29.03.2018, M. Rouchdi B. et autres, Erwägungsgrund 37: „[…] ‚Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik. Sie gewährleistet die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied der Herkunft, der Rasse oder der Religion. Sie respektiert alle Glaubensrichtungen‘. Aus diesem Artikel [Art. 1 der französischen Verfassung] und aus Artikel 10 der Erklärung von 1789 ergibt sich, dass der Grundsatz der Laizität insbesondere verlangt, dass die Republik die freie Ausübung der Religionen gewährleistet“. [↩]
- „Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik. Sie gewährleistet die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied der Herkunft, Rasse oder Religion. Sie achtet jeden Glauben. Sie ist dezentral gegliedert.“ [↩]
- „[…] Die Organisation des unentgeltlichen und laizistischen staatlichen Bildungswesens in allen Stufen ist Staatspflicht.“ [↩]
- Art. 2 des Gesetzes vom 9.12.1905. [↩]
- P. Raynaud (Fn. 16), insb. S. 120 ff. [↩]
- Zum Begriff der Laizität gibt es eine umfangreiche Literatur : Baudouin/Portier (Hrsg.), La laïcité, une valeur d’aujourd’hui ?, 2001; C. Benelbaz, Le principe de laïcité en droit public français, 2011; G. Koubi, La laïcité dans le texte de la Constitution, Revue du droit public, 1997, S. 1301-1321; M. Philip-Gay, Droit de la laïcité, 2016; F. Messner, Laïcité imaginée, laïcité juridique : les évolutions du régime des cultes en France, Le Débat 1993, S. 88-94; J. Rivero, Laïcité scolaire et signes d’appartenance religieuse, Revue française de droit administratif, 1990, S. 1 f.; in deutscher Sprache: C. Dieter Classen, Laizität und Religionsfreiheit in Frankreich, ZevKR 2017, S. 111-151; N. Gross, Frankerich ein kraft Verfassung laizistischer Staat – mit regionalen Ausnahmen, JZ 2013, S. 881-884. [↩]
- Conseil constitutionnel, Entscheidung Nr. 2012-297 QPC vom 21.02.2013, Association pour la promotion et l’expansion de la laïcité [Traitement des pasteurs des églises consistoriales dans les départements du Bas-Rhin, du Haut-Rhin et de la Moselle]. [↩]
- Art. 61-1 der französischen Verfassung: „Wird anläßlich eines anhängigen Gerichtsverfahrens behauptet, eine gesetzliche Bestimmung verstoße gegen die von der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten, kann der Conseil constitutionnel mit dieser Frage befasst werden, auf Verweisung des Conseil d’État oder der Cour de cassation, die sich innerhalb einer bestimmten Frist äußern […]“. [↩]
- Erwägungsgründe Nr. 5 ff. der Entscheidung vom 21.02.2013. [↩]
- J.-C. Monod, Sécularisation et laïcité, 2007, S. 75 f. [↩]
- Vgl. O. Jouanjan, Ernst-Wolfgang Böckenförde et la légitimité de l’État sécularisé, Droits, Nr. 60, 2014, S. 117 ff., dessen Beitrag mit dem Hinweis auf H. Blumenbergs bedeutendes Werk (Die Legitimität der Neuzeit, 1966) eröffnet wird, welches „die Diskurse der Säkularisierung kritisiert“, die „der Moderne die Tatsache – und sogar das Recht – absprechen, dass sie das Prinzip ihrer Legitimität in sich selbst hat, normativ auf sich selbst zu beruhen“, während sie‚ „zumindest zum Teil und, für einige dieser Diskurse, für ihren wesentlichen und konstitutiven Teil, Religion und Theologie, die zu nichtreligiösen oder theologischen Zwecken und mit nichtreligiösen oder theologischen Mitteln wiederverwertet wurden“ ; „Der Wertekonflikt – das ist das Wesen des säkularisierten Staates – wird in der Gesellschaft und nicht im Staat ausgetragen. Es ist sogar das wesentliche Ergebnis der Säkularisierung, dass die Frage der Werte, und in erster Linie der religiösen Werte, außerhalb der staatlichen Macht liegt“. [↩]
- L. Jaume, L’Éternel défi. L’État et les religions en France des origines à nos jours, 2022, S.176 f.: „die neue Laizität“ oder die „offene Laizität“ würde sich der „geschlossenen Laizität“ von Jules Ferry entgegenstellen; P. Larralde, Laïcité éclairée et laïcité aveugle : la tolérance, entre fraternité et indifférence, L’Enseignement philosophique, 2017, S. 9-26; H. Pena Ruiz, Qu’est-ce que la laïcité ?, 2003, S. 128: Die offene Laizität wird „von denjenigen manipuliert, die in Wirklichkeit die wahre Laizität anfechten, sich aber nicht trauen, sich offen gegen die Werte zu stellen, die sie definieren“; A.-V. Hardel, Signes religieux et ordre public : quelles laïcités dans les rapports espaces publics, espaces privés ?, 2018. [↩]
- L. Jaume, L’Éternel défi. L’État et les religions en France des origines à nos jours, 2022, S. 177 f. [↩]
- E.-W. Böckenförde (Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, 1991, S. 314) belegt eine Verbindung zwischen dem politischen Volk und der demokratischen Legitimation fest, die es nicht erlaube, Nicht-Staatsangehörige (Ausländer) einzubeziehen: „Das Problem muß jedoch durch eine entsprechende Aufnahme- und Einbürgerungspolitik, nicht durch Ausdehnung des Wahlrechts gelöst werden. Ist der Ausländer nicht durch Einbürgerung (und seine Einbürgerungsbereitschaft) Mitglied des Staatsverbandes geworden, fehlt ihm die Zugehörigkeit und Bindung an das Volk als politische Schicksalsgemeinschaft. Ungeachtet seiner wirtschaftlichen und womöglich auch sozialen Integration und seinem Betroffensein von den Maßnahmen der Verwaltung, bleibt er, politisch gesehen, doch ‚Gast‘; er ist mit dem politischen Schicksal des Volkes, bei dem er lebt, nicht existentiell verbunden“; R. Barakova, Citoyenneté et nationalité: concordance ou discordance?, in: Lanfranchi/Lecucq/Nazet-Allouche (Hrsg.), Nationalité et citoyenneté. Perspectives de droit comparé, droit européen et droit international, 2012, S. 165 f.; C. Colliot-Thélène, Le citoyen et l’étranger, in: Beaud/Saint-Bonnet (Hrsg.), La citoyenneté comme appartenance au corps politique, 2020, S. 62-63. Zur Gegenüberstellung von Staatsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit (Nationalität): O. Beaud, Les citoyennetés fédérative et impériale. Deux mondes particuliers d’appartenance à une communauté politique, in: Beaud/Saint-Bonnet (Hrsg.), La citoyenneté comme appartenance au corps politique, 2020, S. 75. S. auch J. Lepoutre, Nationalité et souveraineté, 2020, insbesondere S. 1 f. und S. 49 f. – eine Untersuchung der engen Verbindungen zwischen Nationalität und Souveränität, in der die Annäherung der Begriffe „Bürger“ (citoyen) und „Unternan“ (sujet) herborgehoben wird. Von dieser Rolle als bloßes „sujet“ (im Sinne eines der Macht Unterworfenen) hat sich der „citoyen“ emanzipiert und ist zu einem vollwertigen politischen Akteur geworden. Zur Konstruktion der subjektiven Rechte der Bürger: O. Jouanjan, Droit publics subjectifs et citoyenneté dans l’œuvre de Georg Jellinek, in: Beaud/Colliot-Thélène/Kervégan (Hrsg.), Droits subjectifs et citoyenneté, 2019, S. 49-74. [↩]
- J. Leca, Nationalité et citoyenneté dans l’Europe des immigrations, in: Costa-Lascoux/Weil (Hrsg.), Logiques d’États et immigrations, 1992, S. 13: „Nationalité et citoyenneté sont des concepts d’intense valeur idéologique et polémique“. In der deutschen Sprache sind die Begriffe weitgehend austauschbar, auch wenn man „nationalité“‚ mit „Staatsangehörigkeit“ (wörtlich: Zugehörigkeit [Angehörigkeit] zum Staat) und „Staatsbürgerschaft“‚ mit „Staatsbürgerschaft“ (wörtlich: Bürgerschaft [von Bürger – citoyen] des Staates) übersetzen kann. S. ausführlich: M. La Torre, Citoyenneté, in: Troper/Chagnollaud (Hrsg.), Traité international de droit constitutionnel, Band 3 (La suprématie de la Constitution), 2012, S. 258-385, insbesondere S. 374 f. [↩]
- C. Wihtol de Wenden, Le cas français, in: Falga/Wihtol de Wenden/Leggewie (Hrsg.), De l’immigration à l’intégration en France et en Allemagne, 1994, S. 43. [↩]
- C. Colliot-Thélène, La démocratie sans „demos“, 2010, S. 181: „Ein bedeutender Teil der Literatur, die sich mit den zeitgenössischen Wandlungen der Staatsbürgerschaft befasst, konzentriert sich eher auf die Vorgehensweisen von Einzelpersonen und Gruppen als auf ihre formalen Rechte […]“. [↩]
- D. Lochak, Qu’est-ce qu’un citoyen?, Raison présente, Nr. 103, 1992, S. 21. [↩]
- Vom lateinischen „natio“: Nachwuchs, Nachkommenschaft, Volk, vom Verb „nascor“: geboren werden (Dictionnaire Gaffiot, latin-français, 1934, S. 1012). [↩]
- Der große deutsche Historiker T. Mommsen schrieb: „Mit Schmerz sahen wir die französische Fahne über diesem wunderschönen Straßburger Münster, einem Meisterwerk der deutschen Architektur, wehen. Wenn wir die Gedichte lesen würden, die Goethe als Student in Straßburg schrieb, und in seiner Autobiografie die entzückende Idylle von Sessenheim, die lebhafteste und schönste poetische Verkörperung der deutschen Liebe, würden wir das Buch nicht schließen, ohne uns zu fragen, wie unsere Väter es zulassen konnten, dass dieses heilige Feld unserer Poesie von Ausländern geraubt wurde, für die diese Blumen nicht alle ihre Düfte verströmen und von denen wir wussten, dass sie damit beschäftigt waren, unsere Sprache, unsere Bräuche und unseren Kult auszurotten“ (in französischer Sprache, Revue des deux Mondes, Band 90, 1870, S. 133, Auszug aus dem Preußischen Manifest oder Agli Italiani von Theodor Mommsen). N.-D. Fustel de Coulanges, „L’Alsace est-elle allemande ou française?“, Réponse à M. Mommsen, professeur à Berlin, Paris, 1870, S. 7 f., antwortete ihm: „Sie berufen sich auf das Prinzip der Nationalität, aber Sie verstehen es anders als ganz Europa. […] Wollen Sie nun, dass wir herausfinden, welches das Fremde für das Elsass ist? Ist es Frankreich, oder ist es Deutschland? Was ist die Nationalität der Elsässer, was ist ihre wahre Heimat? […] Ich bitte Sie, diese Frage ruhig und ehrlich zu prüfen: Woran erkennen Sie die Nationalität? Woran erkennen Sie das Vaterland? […] Aber ich bin erstaunt, dass ein Historiker wie Sie ignoriert, dass es weder die Rasse noch die Sprache ist, die die Nationalität ausmacht. […] Es mag sein, dass das Elsass durch die Rasse und die Sprache deutsch ist: aber durch die Nationalität und das Gefühl des Vaterlandes ist es französisch. […] Und wissen Sie, was es französisch gemacht hat? Es war nicht Ludwig XIV., es war unsere Revolution von 1789“. Die doppelte Geschichte des Elsass ist zweifellos ein Beispiel für eine unmögliche Zugehörigkeit und das Gefühl, anders zu sein und doch sich selbst zu sein. [↩]
- M. Hauriou, Précis élémentaire de droit constitutionnel, 2. Aufl., 1930, S. 8, der noch auf das „Element der geistigen Verwandtschaft“ verweist und Ernest Renan erwähnt, der Nationen als „geistige Formationen“ begreift. E. Renan (Qu’est-ce qu’une nation, Vortrag an der Sorbonne am 11. März 1882) lehnt die deutsche objektivistische Auffassung ab und hebt die französische, vertragsorientierte Auffassung hervor, die „ein tägliches Plebiszit“ ist: „[…] eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eines davon gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen; das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch, zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt erhalten hat […]“. Renans Vortrag ist eine anachronistische Antwort auf die Reden an die deutsche Nation (Reden an die deutsche Nation; ins Französische übersetzt von L. Philippe, mit einer Einleitung von J. Philipe, 1895) von J. Gottlieb Fichte, die am 13. Dezember 1807 in Berlin gehalten wurden und mit denen das deutsche Gefühl der nationalen Zugehörigkeit während der napoleonischen Besetzung geweckt werden sollte. [↩]
- J. Leca (Fn. 53), S. 15: „Auf der Ebene des einzelnen Bürgers des Nationalstaats überlagern sich Staatsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit ‚normalerweise‘, d. h. auch ‚normativ‘, und werden dadurch im Prinzip zu austauschbaren Begriffen: Die Staatsangehörigkeit wird dem Einzelnen durch die Gesetze des Staates verliehen und bringt als Folge den Status des Staatsbürgers mit sich; dieser Satz kann wiederholt werden, indem ein Wort durch das andere ersetzt wird, ohne dass sich sein Sinn ändert“. Leca spricht weiterhin von der Identitätstriade „national-citoyen-gouvernant“, die „jedoch das starke Bild bleibt, das sowohl für das nationalistische als auch für das demokratische Modell konstitutiv ist“ (S. 16). [↩]
- C. Wihtol de Wenden (Fn. 54), S. 43. [↩]
- Die Idee des Staatsangehörigen, der nicht alle politischen Rechte des Staatsbürgers ausübt, ist kaum neu. E.- J. Sieyès unterschied in seiner Rede vor der Nationalversammlung, die am 20. und 21. Juli 1789 im Verfassungsausschuss vorgelesen wurde (Archives parlementaires de la Révolution française, Bd. 8 [5. Mai 1789-15. September 1789, 1875, S. 239), bereits zwischen passiven und aktiven Bürgern: „Alle Bewohner eines Landes müssen dort die Rechte eines passiven Bürgers genießen: Alle haben das Recht auf den Schutz ihrer Person, ihres Eigentums, ihrer Freiheit etc, aber nicht alle haben das Recht, sich aktiv an der Gestaltung der öffentlichen Gewalt zu beteiligen; nicht alle sind aktive Bürger. Frauen, zumindest im gegenwärtigen Zustand, Kinder, Ausländer und alle anderen, die nichts zur Unterstützung der öffentlichen Einrichtung beitragen würden, dürfen keinen aktiven Einfluss auf die öffentlichen Angelegenheiten nehmen. Alle können die Vorteile der Gesellschaft genießen; aber nur diejenigen, die zur öffentlichen Einrichtung beitragen, sind wie die wahren Aktionäre des großen sozialen Unternehmens“. [↩]
- Art. 17 der Verordnung vom 21. April 1944 über die Organisation der öffentlichen Gewalten in Frankreich: „Die Frauen sind unter den gleichen Bedingungen wie die Männer wahlberechtigt und wählbar“. Frauen mit französischer Staatsangehörigkeit wählten zum ersten Mal am 29. April 1945 bei den Kommunalwahlen und am 21. Oktober 1945 bei der Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung, die einen Verfassungsentwurf ausarbeiten sollte (der die Verfassung der Vierten Republik werden sollte). [↩]
- Conseil constitutionnel, Entscheidung Nr. 92-308 du 9 avril 1992, Traité sur l’Union européenne [„Teilweise Verfassungswidrigkeit“], Erwägungsgründe 24 bis 27 zur Wahl der Mitglieder des Senats: „ In der Erwägung, dass Artikel 3 der Verfassung in seinem ersten Absatz festlegt, dass „die nationale Souveränität beim Volke liegt, das sie durch seine Vertreter und durch Volksentscheid ausübt“; dass derselbe Artikel in seinem dritten Absatz festlegt, dass „die Wahl nach Maßgabe der Verfassung unmittelbar oder mittelbar sein kann“. Artikel 3 Absatz 4 erläutert, dass „nach Maßgabe der Gesetze alle volljährigen französischen Staatsangehörigen beiderlei Geschlechtes, die im Besitz ihrer bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte sind, wahlberechtigt sind“; Gemäß Artikel 24 der Verfassung gewährleistet der mittelbar gewählte Senat „die Vertretung der Gebietskörperschaften der Republik“; gemäß Artikel 72 Absatz 1 der Verfassung „sind die Gebietskörperschaften der Republik die Gemeinden, die Departements und die überseeischen Gebiete […]. Jede andere Gebietskörperschaft wird durch Gesetz geschaffen“; gemäß Absatz 2 desselben Artikels „verwalten sich diese Gebietskörperschaften frei durch gewählte Räte und nach Maßgabe des Gesetzes“; aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass das beschlussfassende Organ einer Gebietskörperschaft der Republik nur durch eine allgemeine Wahl bestimmt werden kann; der Senat muss, da er die Gebietskörperschaften der Republik vertritt, von einer Wählerschaft gewählt werden, die ihrerseits aus diesen Gebietskörperschaften hervorgegangen ist; daraus folgt, dass die Ernennung der Gemeinderäte Auswirkungen auf die Wahl der Senatoren hat; in seiner Eigenschaft als parlamentarische Versammlung nimmt der Senat an der Ausübung der nationalen Souveränität teil; dass daher Artikel 3 Absatz 4 der Verfassung voraussetzt, dass nur „französische Staatsangehörige“ das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen haben, die zur Bestimmung des beschlussfassenden Organs einer Gebietskörperschaft der Republik und insbesondere zur Bestimmung der Gemeinderäte oder der Mitglieder des Pariser Rates durchgeführt werden; in der Erwägung, dass Artikel 8b Absatz 1, der dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft hinzugefügt wurde der dem Verfassungsrat vorgelegt wurde, gegen die Verfassung verstößt […]“. [↩]
- D. Schnapper (Fn. 3), S. 113: „Die demokratische Tradition beruht auf der Idee des Bürgers, die symbolisch mit der Revolution geboren wurde. Die Staatsbürgerschaft wird als unteilbares Ganzes konzipiert, dessen Legitimität sich in einer direkten Beziehung des Bürgers zum Staat ausdrückt, indem die Zwischenkörper marginalisiert werden“. [↩]
- P. Weil, Qu’est-ce qu’un Français, S. 13, über das Aufkommen des Wortes „Nationalität“, S. 641: „Madame de Staël soll es zum ersten Mal in Corinne ou l’Italie (1807, Buch XIV, S. 395) verwendet haben“. Aber es erscheint auch zur gleichen Zeit im juristisch-verwaltungstechnischen Sprachgebrauch: Obwohl der Ausdruck „qualité de Français“ zu dieser Zeit am gebräuchlichsten ist, um die Verbindung zwischen dem Individuum und dem Staat zu bezeichnen, wird das Wort „nationalité“ von W. von Warburg (Dictionnaire étymologiquee éd., 1964) im Jahr 1808 gemeldet“. Vgl. auch G. Noiriel, Etat, Nation et Immigration, vers une histoire de pouvoir, 2001. [↩]
- Artikel 4 der ersten schriftlichen französischen Verfassung vom 3. September 1791 enthält die Formel des Bürgereids: „Ich schwöre, der Nation, dem Gesetz und dem König treu zu sein und mit all meiner Macht die Verfassung des Königreichs aufrechtzuerhalten, die in den Jahren 1789, 1790 und 1791 von der verfassungsgebenden Nationalversammlung beschlossen wurde“ (Je jure d’être fidèle à la Nation, à la loi et au roi et de maintenir de tout mon pouvoir la Constitution du Royaume, décrétée par l’Assemblée nationale constituante aux années 1789, 1790 et 1791). Die Montagnard-Verfassung vom 24. Juni 1793 öffnete die Türen für die Staatsbürgerschaft weit: „Jeder in Frankreich geborene und wohnhafte Mann, der das einundzwanzigste Lebensjahr vollendet hat; – Jeder Ausländer, der das einundzwanzigste Lebensjahr vollendet hat und seit einem Jahr in Frankreich wohnhaft ist und dort von seiner Arbeit lebt – oder Eigentum erwirbt – oder eine Französin heiratet – oder ein Kind adoptiert – oder einen alten Menschen ernährt; – Jeder Ausländer schließlich, der von der gesetzgebenden Körperschaft für wohlverdient um die Menschheit befunden wird – wird zur Ausübung der französischen Bürgerrechte zugelassen“ (Artikel 4). [↩]
- P. Weil, (Fn. 66), S. 12: Die „ausgewählte Konzeption der französischen Nation‚ steht im Gegensatz zur ‘ethnischen Konzeption’, die Deutschland eigen ist“, dem „Vaterland des Blutrechts“; vgl. D. Schnapper, Allemagne-France : débat sur la nation, Commentaire 1996, n°74, S. 315-320; B. Falga/C. Withol de Wenden/C. Leggewie, De l’immigration à l’intégration en France et en Allemagne, 1994, S. 13: Nach dem nationalsozialistischen Zusammenbruch entfernte sich die Bundesrepublik Deutschland von dieser ethnischen Perspektive, indem sie im Grundgesetz vom 23. Mai 1949 das „wahrscheinlich weltweit freiheitlichste“ Asylrecht einführte; M. Alexopoulou, Deutschland und die Migration. Geschichte einer Einwanderungsgesellschaft wider Willen, 2020. [↩]
- Die Verfestigung der Republik, die zu einem frühen Zeitpunkt des 19. Jahrhunderts erfolgte, war langsam: Die verschiedenen Regime wechselten sich ab und die Idee, zur Monarchie zurückzukehren, die durch die Zeiten der Restauration genährt wurde, verschwand nicht, bis das Gesetz vom 14. August 1884 zur Änderung der Verfassungsgesetze der Dritten Republik von 1875 verabschiedet wurde: „Die republikanische Regierungsform kann nicht Gegenstand eines Revisionsvorschlags sein. Die Mitglieder der monarchischen Familien, die über Frankreich regiert haben, sind für das Amt des Präsidenten der Republik nicht wählbar“. In der Verfassung vom 4. Oktober 1958 nimmt dieses Verbot die Form einer materiellen Einschränkung an, die an die Befugnis zur Verfassungsänderung gerichtet ist: „Die republikanische Regierungsform darf nicht Gegenstand einer Änderung sein“ (Artikel 89, Absatz 5). [↩]
- Die pro-palistinensischen Demonstrationen, die unmittelbar nach dem tödlichen Terroranschlag organisiert wurden, der am 7. Oktober 2023 von der Hamas, einer von der Europäischen Union als terroristisch eingestuften Organisation, auf dem Gebiet des Staates Israel verübt wurde, zeigen gefährliche Vermischungen und Verkürzungen, die die Zugehörigkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen zur nationalen Gemeinschaft auf die Probe stellen. In seiner Ansprache an die Franzosen vom 12. Oktober 2023 verurteilte der Präsident der Republik, Emmanuel Macron, „auf entschiedenste Weise diese grauenhaften Taten“ , indem er den Krieg der Hamas gegen „demokratische Werte“ denunzierte und vor „antisemitischer Gewalt“ warnte: „Weder Verdächtigungen noch Spaltungen zwischen uns dürfen innerhalb der Nation existieren […] Antisemitismus war immer der Auftakt zu anderen Formen des Hasses: an einem Tag gegenüber Juden, am nächsten Tag gegenüber Christen, dann gegenüber Muslimen, dann gegenüber all jenen, die aufgrund ihrer Kultur, ihrer Herkunft, ihres Geschlechts immer noch Gegenstand von Hass sind“ (https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2023/10/12/adresse-aux-francais-3). [↩]
- Der französische Conseil constitutionnel, der gemäß Artikel 11 Absatz 4 der Verfassung („[d]ie Bedingungen seiner Einreichung und die unter denen der Conseil constitutionnel die Einhaltung der Bestimmungen des vorangehenden Absatzes kontrolliert, werden durch ein Organgesetz bestimmt“) mit dem Gesetzesvorschlag zur Reform des Zugangs zu Sozialleistungen für Ausländer befasst wurde, entschied, dass der Text nicht die in der Verfassung festgesetzten Anforderungen erfüllt und somit die Durchführung eines Volksentscheids mit geteilter Initiative gemäß Artikel 11 Absatz 3 der Verfassung unmöglich macht: „Ein Volksentscheid […] kann auf Initiative eines Fünftels der Mitglieder des Parlaments, unterstützt von einem Zehntel der in den Wahlllisten eingetragenen Wähler, stattfinden. Diese Initiative wird in Form eines Gesetzesvorschlages ergriffen und kann nicht die Aufhebung einer gesetzlichen Bestimmung zum Gegenstand haben, die vor weniger als einem Jahr verkündet wurde“ (Entscheidung Nr. 2024-6 RIP vom 11. 04. 2024 [Verfassungswidrigkeit]). Der Gesetzesvorschlag besteht aus fünf Artikeln und führt unter anderem eine Mindestaufenthaltsdauer in Frankreich oder die Zugehörigkeit zu einem Pflichtversicherungssystem der Sozialversicherung aufgrund einer Berufstätigkeit als Bedingung ein, die Ausländer aus Nicht-EU-Staaten mit rechtmäßigem Aufenthaltsstatus erfüllen müssen, um bestimmte Sozialleistungen in Anspruch nehmen zu können. Als unverzichtbares Sprachelement in den Reden extremer (rechter oder linker) Parteien wurde das Volksentscheid diesmal von einer politischen Bewegung getragen, die als „gemäßigt“ bezeichnet wird: Les Républicains. Für den Conseil constitutionnel erfüllen die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht die „gesetzlichen Garantien“, insbesondere im Bereich der „Politik der nationalen Solidarität zugunsten benachteiligter Personen“ (Erwägungsgründe 12 und 13 der Entscheidung vom 11.04. 2024). [↩]
- Die Vorschriften über die französische Staatsangehörigkeit waren zwischen 1804 und 1944 im Code civil geregelt. 1945 wurden sie durch den Code de la nationalité (ordonnance Nr. 45-2441 vom 19.10.1945 portant Code de la nationalité française) ersetzt, bevor 1993 mit dem Gesetz Nr.93-933 vom 22. Juli 1993 zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts der Code civil (Livre I, Titre I bis : De la nationalité française) diese Frage erneut regelte und festlegte, dass diese Bestimmungen in Ermangelung spezifischer völkerrechtlicher Regelungen gemäß Artikel 17 des Code civil anwendbar sind: „Die französische Staatsangehörigkeit wird nach den Bestimmungen dieses Titels verliehen, erworben oder verloren, vorbehaltlich der Anwendung der Verträge und anderer völkerrechtlicher Verpflichtungen Frankreichs“. [↩]
- Im Gegensatz zu Deutschland, das sich an das „in Europa üblicherweise geltende Prinzip der Abstammung oder des Blutrechts“ hält. Vgl. zu den historischen Gründen für das Abstammungsrecht in Deutschland: B. Falga/C. Withol de Wenden/C. Leggewie, De l’immigration à l’intégration en France et en Allemagne, 1994, S. 12-13: „Die historischen Hypotheken, die beide Länder zu tragen haben und die sie stets dazu neigen, verdrängen zu wollen, tragen auf komplexe Weise zu dieser stets schematischen Gegenüberstellung bei: Diese Hypotheken sind auf der einen Seite der Nationalsozialismus mit seiner rassistischen Politik der Vertreibung und Vernichtung von Millionen von Ausländern, darunter mehrere Tausend perfekt assimilierte deutsche Juden, und auf der anderen Seite der Algerienkrieg und seine Fiktion eines von Dunkerque bis Tamanrasset reichenden unteilbaren Frankreichs.“ [↩]
- Artikel 19-3 des Code civil: „Ein in Frankreich geborenes Kind ist Franzose, wenn mindestens ein Elternteil selbst dort geboren ist.“ [↩]
- Artikel 19-1 des Code civil: „Franzose ist: 1° Das in Frankreich geborene Kind staatenloser Eltern; 2° Das in Frankreich geborene Kind ausländischer Eltern, bei dem die ausländischen Staatsangehörigkeitsgesetze in keiner Weise zulassen, dass ihm die Staatsangehörigkeit eines der beiden Elternteile übertragen wird“. [↩]
- Artikel 21-7 des Code civil: „Jedes in Frankreich geborene Kind ausländischer Eltern erwirbt mit seiner Volljährigkeit die französische Staatsangehörigkeit, wenn es zu diesem Zeitpunkt seinen Wohnsitz in Frankreich hat und wenn es seit dem Alter von elf Jahren während eines ununterbrochenen oder unterbrochenen Zeitraums von mindestens fünf Jahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Frankreich hatte“ und Artikel 21-11 : „Das in Frankreich geborene minderjährige Kind ausländischer Eltern kann ab dem Alter von sechzehn Jahren die französische Staatsangehörigkeit durch Erklärung beanspruchen […], wenn es zum Zeitpunkt seiner Erklärung seinen Wohnsitz in Frankreich hat und seit dem Alter von elf Jahren während eines ununterbrochenen oder unterbrochenen Zeitraums von mindestens fünf Jahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Frankreich hatte“. [↩]
- Artikel 21-2 des Code civil: „Ein Ausländer oder Staatenloser, der eine Ehe mit einem Ehepartner französischer Staatsangehörigkeit eingeht, kann nach einer Frist von vier Jahren ab der Eheschließung die französische Staatsangehörigkeit durch Erklärung erwerben, sofern zum Zeitpunkt dieser Erklärung die emotionale und materielle Lebensgemeinschaft zwischen den Ehepartnern seit der Eheschließung nicht aufgehört hat und der französische Ehepartner seine Staatsangehörigkeit beibehalten hat […]“; Artikel 21-15 des Code civil: „[…] der Erwerb der französischen Staatsangehörigkeit durch eine Entscheidung der öffentlichen Behörde ergibt sich aus einer Einbürgerung, die auf Antrag des Ausländers per Dekret gewährt wird“. [↩]
- Artikel 21-24 des Code civil: „Niemand kann eingebürgert werden, wenn er nicht seine Assimilation an die französische Gemeinschaft durch eine seinem Stand entsprechende ausreichende Kenntnis der französischen Sprache, Geschichte, Kultur und Gesellschaft […] und der durch die französische Staatsangehörigkeit verliehenen Rechte und Pflichten sowie durch das Bekenntnis zu den wesentlichen Grundsätzen und Werten der Republik nachweist. Die betreffende Person weist ein Sprachniveau nach, das es ihr zumindest ermöglicht, den wesentlichen Inhalt konkreter oder abstrakter Themen in einem komplexen Text zu verstehen, spontan zu kommunizieren sowie sich klar und detailliert zu einer Vielzahl von Themen zu äußern“. Dekret Nr. 2012-127 vom 30. Januar 2012 zur Genehmigung der Charta der Rechte und Pflichten des französischen Staatsbürgers gemäß Artikel 21-24 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Die Charta, die als detaillierte Konkretisierung insbesondere von Artikel 1 der Verfassung der Fünften Republik verstanden werden kann, erinnert an „die wesentlichen Grundsätze und Werte der Republik und nennt die Rechte und Pflichten des Bürgers, die sich aus der Verfassung oder dem Gesetz ergeben“ , indem sie festlegt, dass „sich das französische Volk in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 und in den aus seiner Geschichte geerbten demokratischen Grundsätzen wiedererkennt“. [↩]
- Beispielsweise beruhte die koloniale Gesellschaft auf dem ungleichen rechtlichen, politischen und sozialen Status der Mitglieder, aus denen sie sich zusammensetzte. In Algerien entstand diese rechtliche Ungeheuerlichkeit im Vergleich zu den Grundsätzen der modernen Demokratie: Staatsangehörigkeit (Nationalität) ohne Staatsbürgerschaft. Im Jahr 1862 stellte das Gericht von Algier fest, dass „der Einheimische (indigène), auch wenn er kein Staatsbürger ist, Franzose ist“. Die volle Staatsbürgerschaft wurde ihnen erst 1958 zuerkannt. [↩]
- D. Nazet-Allouche, Quelle citoyenneté pour les ressortissants des pays tiers dans l’Union européenne (S. 181-202) und S. Hutter, Le droit de suffrage et la citoyenneté européenne (S. 245-265), in: Lanfranchi/Lecucq/Nazet-Allouche (Hrsg.), Nationalité et citoyenneté. Perspectives de droit comparé, droit européen et droit international, 2012. [↩]
- Zu den Beispielen für die Ausgrenzung von Ausländern gehört die Verwendung des Ausdrucks „Français de papier“ oder „Français de papier timbré“, der von der antisemitischen Tageszeitung La Libre Parole aus dem 19. Jahrhundert verbreitet wurde: siehe M.-C. Bherer, „Français de papier“, une formule xénophobe au service de la division de la nation, Le Monde, 25. Oktober 2023. Vor kurzem beschuldigten Nadine Morano, eine Politikerin der Partei Les Républicains, und Marion Maréchal (Le Pen), die der Partei Reconquête angehört, aber dem rechtsextremen Rassemblement National nahesteht, den französischen Fußballspieler Karim Benzema, ein „Papierfranzose“ zu sein, weil er die Bevölkerung von Gaza nach dem Pogrom vom 7. Oktober 2023 unterstützt hatte. [↩]
- E. Ribert, Liberté, égalité, carte d’identité. Les jeunes issus de l’immigration et l’appartenance nationale, 2006, S. 9 f. und S. 237 f. [↩]
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