A. Wo steht Deutschland im Bereich der Integration bzw. Integrationspolitik?
I. Deutschland als Einwanderungsland
Bis auf wenige Ausnahmen sind in den letzten Jahrzehnten alle westlichen Industrieländer zu Einwanderungsländern geworden, die mehr oder minder ausgeprägte Integrationspolitiken verfolgen.1 Das gilt auch für Deutschland, das beginnend mit der Gastarbeiterzuwanderung und später der EU-Migration in großem Umfang Einwanderung erlebt. Seit Jahren ist Deutschland Nettoeinwanderungsland, d.h. es ziehen mehr Menschen zu als weg, wobei die EU-Zuwanderung lange Zeit den größten Anteil ausgemacht hat. Mittlerweile ist die Flüchtlingszuwanderung, insbesondere aus der Ukraine, an diese Stelle getreten. Stark steigende Zahlen verzeichnet Deutschland auch für die Flüchtlingszuwanderung aus Syrien, dem Irak, Afghanistan, der Türkei und afrikanischen Staaten. Im vergangenen Jahr wurden über 350.000 Asylanträge gestellt.2 Die Aufnahme von Flüchtlingen wird im Allgemeinen nicht unter die Kategorie Zu- oder Einwanderung gefasst, da sie in der Regel ungesteuert erfolgt und die Dauer des Aufenthalts ungewiss ist. Da viele der Flüchtlinge, die Deutschland insbesondere in den Jahren 2015/16 aufgenommen hat, aber dauerhaft – jedenfalls längerfristig – in Deutschland bleiben werden, stellen sich auch hier Fragen der Integration.3 Am Ende der Skala – was die Zahlen betrifft – stehen die Bildungs- und Fachkräftemigration, deren rechtliche Grundlagen im letzten Jahrzehnt immer weiter liberalisiert worden sind.
Einwanderung ist gesellschaftspolitisch kein konfliktfreier Selbstläufer. Die gesellschaftliche Eingliederung von Neuzuwanderern setzt eine entsprechende gesellschaftliche Öffnung voraus. Damit die Zugewanderten Platz nehmen können, müssen die schon Anwesenden Platz machen. Integration ist dahingehend immer ein zweiseitiger Prozess und auch einer, der mit Verteilung und Umverteilung von gesellschaftlichen Statuspositionen zu tun hat.4 Jede Einwanderungsgesellschaft ist durch wachsende Pluralität gekennzeichnet, die vielfach konflikthaft erlebt wird. Gleichzeitig muss sie sich von der Illusion befreien, dass Migranten nur Gäste sind und akzeptieren, dass der Migrationsstatus nach einiger Zeit verloren geht.
Jedes Einwanderungsland muss sich daher die Frage stellen, welche politische Strategie angemessen ist, um Zuwanderern die Teilhabe an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu ermöglichen und ihnen damit die Integration zu erleichtern, und welche rechtlichen Maßnahmen zur Umsetzung dieses Ziels ergriffen werden müssen. Welche Erwartungen sind an die Zuwanderer zu richten? In welchen Bereichen wird Anpassung verlangt und wo ist dies nicht der Fall? Was ist das gemeinsame Wertefundament, von dem Abzweigungen nicht akzeptiert werden können?
I. Einwanderungsland Deutschland im internationalen Vergleich
1. Konkurrierende Strategien im Feld der Integrationspolitik
Im internationalen Vergleich gehörte Deutschland über lange Zeit integrationspolitisch nicht gerade zu den Vorreitern. Erst seit Ende der 70er Jahre wurde sich die Politik allmählich bewusst, dass Integration kein Selbstläufer ist, sondern aktiv eingefordert und unterstützt werden muss.5 Seitdem hat sich Integrationspolitik als eigenes Politikfeld etabliert.
Im Folgenden soll die deutsche Integrationspolitik international vergleichend analysiert werden, ihr Wandel bis heute beschrieben und im Anschluss mit Blick auf die unterschiedlichen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens verfassungsrechtlich eingeordnet werden. Hierbei geht es stets auch um das Verhältnis von Integration und Identität: der sprachlichen, religiösen, kulturellen Identität der Einwanderer und ihre Entfaltung in einer freiheitlichen Ordnung.
Aus der migrationssoziologischen Perspektive können im Feld der Integrationspolitik mehrere konkurrierende Strategien ausgemacht werden, die den politischen und rechtlichen Umgang von Einwanderungsländern mit Einwanderern prägen: der Multikulturalismus, der Republikanismus und eine Art Segregationsmodell.6 Diese Modelle bilden in mehr oder minder idealisierter Form den strukturellen Ausgangspunkt für Maßnahmen zur Eingliederung von Einwanderern und ihren Nachkommen. Es handelt sich um paradigmatische Beschreibungen, die notwendig auf einer gewissen Abstraktionshöhe bleiben müssen und nicht als akkurate Wiedergabe der Integrationsrealität in den betroffenen Staaten gelten können.
2. Konvergenz der Integrationspolitiken
Hinter diesen integrationspolitischen Strategien stehen gegensätzliche Vorstellungen, wie Integration ablaufen soll und dieser Prozess beeinflusst werden kann. Diese wurden vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) in seinem Jahresgutachten 2015 analysiert7: Die Strategie des Multikulturalismus, die lange in den Niederlanden praktiziert worden ist und in Kanada bis heute gilt, möchte Einwanderern „ermöglichen, sich auf der Basis ihrer eigenen […] kulturellen und religiösen Zugehörigkeit in die Aufnahmegesellschaft zu integrieren“.8 Diese Sichtweise basiert auf einem spezifischen Integrationsbegriff und bringt unzweifelhaft Bruchstellen und Friktionen mit sich. Die Differenz zwischen Einwanderern und der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund wird vom Staat nicht nur anerkannt, sondern aufrechterhalten und gefördert. In den Niederlanden wurde dieses Modell auf die Spitze getrieben.9 Als ein besonders plastisches Beispiel beschreibt der niederländische Soziologe Ruud Koopmans das Vorgehen öffentlicher Wohnungsbaugesellschaften: Diese achteten bei Neubauten darauf, dass der Toilettensitz nicht nach Mekka ausgerichtet war; außerdem war eine „Trennung privater und öffentlicher Bereiche im Apartment mit der Küche in der Mitte vorgesehen, „was es Frauen ermöglichte, die Männer im öffentlichen Teil des Hauses zu bedienen, ohne von ihnen gesehen zu werden“.10 Demgegenüber hat Kanada dem Werterelativismus stets deutliche Grenzen gesetzt und die Notwendigkeit gesellschaftlicher Kohäsion betont.11 Dies und die hoch selektive, auf Fachkräfte konzentrierte Einwanderungspolitik Kanadas hat maßgeblich zur bis heute bestehenden Akzeptanz des Multikulturalismus à la Kanada beigetragen;12 ganz im Gegensatz zu den Niederlanden, in denen die Bevölkerung die Politik des Multikulturalismus ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr akzeptierte, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der ernüchternden Ergebnisse.13 Denn entgegen der allgemeinen Erwartung produzierte das niederländische Modell nicht mehr Gleichheit und eine schnellere Eingliederung der Zuwanderer, sondern mehr Ungleichheit und Marginalisierung. Es ist sicher richtig festzustellen, dass der Rechtspopulismus in den Niederlanden seinen Aufstieg auch dieser Politik des Multikulturalismus verdankt.14
Die Annahmen des republikanischen Gegenmodells unterscheiden sich davon diametral. Anstelle von Differenz und ihrer staatlichen Aufrechterhaltung und Förderung steht hier die Förderung von Gleichheit im Fokus. Kultureller und religiöser Differenz begegnen die betreffenden Staaten – das bekannteste Beispiel ist Frankreich15 – mit Indifferenz. Entsprechend werden Neuzuwanderer vornehmlich als potenzielle Bürger betrachtet. Kulturelle oder religiöse Zugehörigkeiten werden nicht berücksichtigt. Stattdessen wird Anpassung gefordert. In Kombination „mit einer staatlich garantierten Gleichbehandlung aller Bürger, die von bestehenden Unterschieden absieht, soll diese Anpassung die Teilhabe an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens sicherstellen”.16 In diesem Modell sind nicht nur die Förderung kollektiver Rechte von Zuwanderern und Minderheiten unvorstellbar, sondern schon der Gedanke, ethnische Minderheiten auch nur separat statistisch zu erfassen. Im Gegensatz zum ‚kultursensiblen‘ Multikulturalismus agiert der Republikanismus also ‚kultur- bzw. ethnienblind‘. Damit ist ein Kulturuniversalismus verbunden, der das Ausleben kultureller Unterschiede bzw. daraus resultierender unterschiedlicher Bedürfnisse auf den privaten Bereich beschränkt, während der öffentliche Raum als kulturell neutral gilt oder zumindest als universell in dem Sinne, dass dort einheitliche Werte und Verhaltensweisen gelten.17 Betrachtet man die jüngere Entwicklung in Frankreich, wird allerdings eine deutliche Abschwächung des radikalrepublikanischen Ansatzes sichtbar. Angesichts massiver Integrationsprobleme hat Frankreich mittlerweile spezifische Förderprogramme für Zuwanderer aufgelegt und erfasst Personen mit Migrationshintergrund, die im Übrigen vielfach französische Staatsbürger sind, nun auch statistisch, um Arbeitsmarkt- und Bildungsbeteiligung messen zu können.
Weniger als Alternativmodell diskutiert denn als Antimodell kritisiert wurde das in Deutschland lange Zeit vorherrschende Modell, das als ‚Gastarbeiter‘- oder Segregationsmodell bezeichnet wurde: Eine Einbürgerung war über viele Jahre nur unter sehr strengen Bedingungen möglich. Es gab keine staatliche Infrastruktur, um ‚Gastarbeitern’ die Eingliederung zu erleichtern. Laut der offiziellen politischen Kommunikation betrachtete sich Deutschland trotz der Einwanderungsrealität nicht als Einwanderungsland. Ziel der Politik war danach weniger eine Integration im Sinne der Förderung gleichberechtigter Teilhabe als vielmehr eine Form der Segregation, getragen von der Vorstellung, dass die ‚Gastarbeiter’ irgendwann in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden.18
Schaut man sich die integrationspolitische Entwicklung der hier betrachteten Staaten heute an, fallen zwei Dinge ins Auge: zum einen die Ablösung von integrationspolitischen Großtheorien und damit verbunden zum anderen ein Konvergenzprozess hinsichtlich der allgemeinen Ausrichtung von Integrationspolitik im Sinne eines pragmatischen, an konkreten Integrationserfordernissen orientierten Vorgehens. Dieses setzt einerseits auf spezifische Integrationsmaßnahmen wie etwa Integrationskurse, in denen an erster Stelle die jeweilige Verkehrssprache und die normativen Grundlagen des Zusammenlebens vermittelt werden, andererseits auf die Integration der Einwanderer in die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Regelsysteme, sofern eine längerfristige Aufenthaltsperspektive besteht.19 So auch in Deutschland. Auslöser für den Politikwandel war die Erkenntnis, dass die bisherige Politik, die durch die Abwesenheit von Bemühungen um nachhaltige Integration gekennzeichnet war – unter dem Mantra: Deutschland ist kein Einwanderungsland – an ihr Ende gekommen war. Das Gastarbeitermodell war überholt; in den Fokus rückte die Integration der hier ansässigen Zuwanderer, die vielfach bereits in dritter Generation in Deutschland lebten, gleichwohl bei Arbeitsmarkt- und Bildungsbeteiligung weit hinter der einheimischen Bevölkerung zurückblieben. Gleichzeitig wurde eine verstärkte Rückbesinnung auf die religiöse und kulturelle Identität der Herkunftsgesellschaft – vor allem bei der türkischstämmigen Bevölkerung – erkennbar, die auch die jüngere Generation erfasste. Hiermit einher ging nicht selten eine Distanz zur Mehrheitsgesellschaft und den dort gelebten Werten. Das Diktum von der gescheiterten Integration machte die Runde.
Sichtbaren Ausdruck fand der Politikwechsel in den Reformen des Einbürgerungsrechts von 1990, die insbesondere die Einbürgerung junger Ausländer erleichterte, und von 2000, mit der die Anspruchseinbürgerung für gut integrierte Ausländer sowie das Geburtsortprinzip für hier geborene Kinder von lang ansässigen Ausländern eingeführt wurde. Mit dem Zuwanderungsgesetz 2005 wurde außerdem die Integration der Zuwanderer (aus Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union) zur Politikaufgabe erklärt und das System der Integrationskurse geschaffen.20 Im Bereich von Schule und Ausbildung wurde verstärkt auf spezifische Förderung, namentlich die Vermittlung der deutschen Sprache gesetzt. Nach dem damals auch für die Integrationspolitik etablierten und bis heute, wenn auch mittlerweile abgeschwächt geltenden Grundprinzip des Förderns und Forderns wurde die Eröffnung von Integrationschancen verbunden mit der Erwartung, dass diese auch ergriffen werden. Andernfalls drohten Sanktionen, wie etwa der Entzug von Transferleistungen bei der Nichtteilnahme an Integrationskursen. Diese Politik wurde auf alle Ausländer erstreckt, die sich rechtmäßig in Deutschland aufhielten; auch auf Flüchtlinge, sofern diese über eine Bleibeperspektive verfügten. Auf das Bestehen einer Bleibeperspektive hat der Gesetzgeber mit der Novellierung des § 44 AufenthG allerdings nunmehr verzichtet, indem er Sprach- und Integrationskurse auch auf noch im Asylverfahren befindliche Ausländer (aus Drittstaaten) unabhängig von ihrer Bleibeperspektive erstreckt hat.21 Zugang zu Integrationskursen erhalten bei entsprechend vorhandenem Angebot damit auch Asylbewerber aus sicheren Herkunftsstaaten.22
Der Grundsatz des Förderns und Forderns gilt nicht nur für integrationspolitische Spezialmaßnahmen, sondern kommt auch – wenn auch seit dem Jahr 2023 in abgeschwächter Form – zur Anwendung in den Regelsystemen der allgemeinen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, in die die Zuwanderer – mit gewissen Abstufungen in Hinblick auf den Aufenthaltsstatus – eingegliedert werden.23 Danach gilt: Gleiches Recht für alle, für die Zuwanderer und die lang Ansässigen, ob mit oder ohne Migrationshintergrund! Insofern haben Veränderungen im Sanktionssystem im Bürgergeldbezug nach dem SGB VIII (zuvor Hartz IV) – etwa auch die Rücknahme von Sanktionsmöglichkeiten, wie sie zu Beginn des Jahres 2023 erfolgt ist – mittelbar immer ebenfalls Rückwirkungen auf diese Grundkonzeption der Integrationspolitik.24 Die Integration von Zuwanderern in die Regelsysteme sozialer Unterstützung reproduziert damit auch jene Probleme, die ganz generell in Hinblick auf Anreize zur Arbeitsaufnahme gerade im gering qualifizierten Bereich bestehen. Angesichts der im internationalen Vergleich sehr geringen Arbeitsmarktbeteiligung ukrainischer Kriegsflüchtlinge geraten derartige Fragen verstärkt in den Fokus.25 Hier stellen sich strukturelle Probleme im hochentwickelten Sozialstaat, bei dem die Balance zwischen Fördern und Fordern möglicherweise nicht mehr stimmig ist. Nach gewissen Erfolgen in der Integrationspolitik – insbesondere in den Bereichen Bildung und Arbeitsmarkt in den 2000er-Jahren – stellt sich die Lage heute wieder als schwieriger dar. Hier mögen unterschiedliche Aspekte eine Rolle spielen. Die Flüchtlingszuwanderung im Jahr 2015 – überwiegend männlich und muslimisch – in einem Umfang von etwas über einer Million Menschen stellt jede Integrationspolitik vor besonders große Herausforderungen in Hinblick auf die Sicherung gleicher Teilhabe durch Qualifizierung, aber auch in Hinblick auf die Sicherung des Konsenses über die Grundlagen des Zusammenlebens.
B. Verfassungsrecht und Integration
Vgl. zum Folgenden (I., II. und IV.) bereits C. Langenfeld (Fn. *), 682 ff.
I. Grundrechtsgeltung
Die Integrationsorientierung des Grundgesetzes macht sich zunächst fest an der Geltung der Jedermann-Grundrechte auch für ausländische Zuwanderer, und zwar unabhängig von Grund und Dauer des Aufenthaltes in Deutschland. Auf die Deutschen-Grundrechte können sie sich nicht berufen. Soweit der von diesen Grundrechten erfasste Lebensbereich betroffen ist, sind Ausländer allerdings nicht schutzlos gestellt. Beschränkungen, etwa des Arbeitsmarktzuganges, sind am Maßstab der allgemeinen Handlungsfreiheit zu messen und damit am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie sind dementsprechend in weiterem Umfang möglich als gegenüber Deutschen und Unionsbürgern. So ist etwa der Ausschluss vom Arbeitsmarkt, also ein Arbeitsverbot, wie es während des Asylverfahrens in den ersten Monaten besteht, zulässig; mit zunehmender Dauer des Aufenthalts ist allerdings die Erwerbstätigkeit zur Sicherung des Lebensunterhalts auch mit Blick auf das Persönlichkeitsrecht zu ermöglichen. Im Übrigen ist mit der Gewährung eines Aufenthaltstitels regelmäßig auch der Zugang zum Arbeitsmarkt, jedenfalls aber zu einer bestimmten Beschäftigung verbunden. Die Kinder erhalten Zugang zu Schule und Ausbildung; regelmäßig unterliegen sie auch der Schulpflicht. Aus gleichheitsrechtlicher Perspektive gilt, dass Differenzierungen wegen der Staatsangehörigkeit vom Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes nicht erfasst sind.26 Sie fallen in den Anwendungsbereich des allgemeinen Gleichheitssatzes, sind aber wegen der Nähe zu den absoluten Diskriminierungsverboten einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen und regelmäßig nur zulässig, wenn es im betroffenen Sachbereich auf die personale Zugehörigkeit entscheidend ankommt. Das ist zunehmend weniger der Fall. Maßgeblich sind vielmehr der Aufenthaltsstatus, der Aufenthaltszweck und daraus abgeleitet die Aufenthaltsperspektive. Hieraus ergibt sich eine nahezu vollständige sozio-ökonomische Gleichstellung der sich rechtmäßig und langfristig in Deutschland aufhaltenden Ausländer im geltenden Recht und damit eine umfassende Teilhabe im Bereich Arbeit, Bildung und Soziales.27 An die Stelle des klassischen Fremdenrechts ist eine stufenweise Angleichung ihres Status an denjenigen der Deutschen und Unionsbürger getreten.28 Ihren Höhepunkt findet die Verfestigung des Aufenthaltes mit der Niederlassungserlaubnis, die sich vom ursprünglichen Aufenthaltszweck löst und unbefristet ist. Auf die Niederlassungserlaubnis besteht – jedenfalls im Regelfall – nach fünfjährigem rechtmäßigen Aufenthalt ein Anspruch, wenn bestimmte Integrationsvoraussetzungen erfüllt sind wie Unterhaltssicherung, Straffreiheit, das Vorliegen ausreichender deutscher Sprachkenntnisse usw. Spätestens mit der Niederlassungserlaubnis verfügen Ausländer über ein hohes Maß an Aufenthaltssicherheit, da sie nur noch unter sehr engen Voraussetzungen – etwa bei Begehung erheblicher Straftaten – ausgewiesen werden können. Denn mit zunehmender Dauer des Aufenthalts gewinnen die Bleibeinteressen in Hinblick auf den grundrechtlichen Schutz des Familien- und Privatlebens ein immer höheres Gewicht. Eine derartige Aufenthaltsverfestigung sieht das einfache Recht auch für anerkannte Flüchtlinge vor. Erfüllen Letztere bestimmte Integrationsvoraussetzungen, kann aus dem als vorübergehend gedachten Schutzaufenthalt ein Daueraufenthalt werden, der sich vom ursprünglichen Fluchtgrund löst. Der Gesetzgeber differenziert hier nach der in Hinblick auf den Fluchtgrund zu beurteilenden Aufenthaltsperspektive: Je langfristiger diese ist, je weniger mit dem baldigen Wegfall des Fluchtgrundes zu rechnen ist, desto eher wird der Weg in den Daueraufenthalt eröffnet.
Welche Voraussetzungen für eine Verfestigung des Aufenthalts von Ausländern in Deutschland vorliegen müssen und in welchen Schritten sie erfolgt, ist im Einzelnen verfassungsrechtlich nicht vorgegeben; hier ist der Gesetzgeber am Zug. Als Leitplanke, die durch die Grundrechtsordnung und das Sozialstaatsprinzip markiert wird, wird man aber doch festhalten, dass die rechtmäßige Gebietszulassung und ein daran anknüpfender sicherer Aufenthaltsstatus schrittweise zu sozio-ökonomischer Gleichstellung und Aufenthaltssicherheit führen müssen. In Hinblick auf diejenigen, die über längere Zeit geduldet sind, d.h. deren Ausreisepflicht nur ausgesetzt ist und die sich daher rechtswidrig in Deutschland aufhalten, besteht eine Reihe von stichtagsunabhängigen wie stichtagsabhängigen Regelungen, die zu einer Regularisierung des Aufenthalts bei Vorliegen bestimmter Integrationsvoraussetzungen führen.29 Auf diesem Wege sucht der Gesetzgeber dem Dilemma in den Fällen zu entkommen, in denen an sich ein Aufenthaltsrecht nicht besteht, gleichwohl der Aufenthalt aus Gründen, die von den Betreffenden nicht zu vertreten sind, über Jahre nicht beendet werden kann.30 Regularisierungen lösen den Zielkonflikt zwischen Migrationssteuerung zugunsten der Integrationsförderung auf, da ein vom Gesetzgeber zunächst nicht gewollter und rechtswidriger Aufenthalt schlussendlich legalisiert wird.31 Je großzügiger die entsprechenden Regelungen ausgestaltet und je allgemeiner sie gefasst sind – dies ist etwa der Fall bei stichtagsunabhängigen Regularisierungsregeln –, desto stärker verschiebt sich allerdings das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Zielsetzungen zulasten der Migrationssteuerung. Dauert der Aufenthalt über Jahre an und kann er aus von der betroffenen Person nicht zu vertretenden Gründen nicht beendet werden, lassen sich Regularisierungen bei Vorliegen bestimmter Integrationsvoraussetzungen durchaus vertreten. Andererseits können Regularisierungen für Migranten auch anziehend wirken, da sie – unter bestimmten Voraussetzungen – damit rechnen dürfen, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erhalten, ohne über einen humanitären Fluchtgrund zu verfügen, sofern der Aufenthalt die für die Regularisierung erforderliche Mindestdauer erreicht.32 Die Unterscheidung zwischen gesteuerter Arbeitsmigration und Fluchtmigration einerseits und irregulärer Migration andererseits wird damit tendenziell aufgegeben.
In Hinblick auf soziale Leistungsansprüche löst die Inländergleichbehandlung von Ausländern immer wieder Diskussionen aus.33 Denn im Sozialrecht gilt weithin das so genannte Territorialitätsprinzip. Danach haben – jedenfalls im Grundsatz – alle Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland Anspruch auf Sozialleistungen; auch diejenigen, die nicht über eine Aufenthaltsperspektive verfügen oder deren Aufenthalt noch ungesichert ist. An die Stelle der Staatsangehörigkeit ist schrittweise die Solidargemeinschaft aller in Deutschland lebenden Personen getreten; der Ausländerstatus hat seine Relevanz verloren. Belastungen des Sozialsystems durch Ausländer sind über das Migrationsrecht zu bewältigen, über die Verwehrung des Zugangs nach Deutschland oder über die Beendigung des Aufenthaltes.
Seit einer Reihe von Jahren ist demgegenüber eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten, die sich von der Geltung des Territorialitätsprinzips für bestimmte Ausländergruppen und Sozialleistungen entfernt. Dies gilt für EU-Angehörige, für die der strikte Nexus zwischen territorialer Präsenz und sozialer Sicherungspflicht durch den EuGH aufgehoben und vom deutschen Gesetzgeber nachvollzogen wurde.34 EU-Bürgern, die über keine ausreichenden Existenzmittel und damit über kein Freizügigkeitsrecht verfügen, dürfen die Sozialleistungen gestrichen werden. Innerhalb der EU leuchtet dies insofern ein, als der Herkunftsstaat leicht erreichbar ist und die Betroffenen auf die dort gewährten Sozialleistungen verwiesen werden können. Die unionsrechtliche Freizügigkeit gibt kein Recht auf Einreise in das Sozialleistungssystem eines anderen EU-Mitgliedstaates; das aus der Freizügigkeit folgende Aufenthaltsrecht ist auf den Marktbürger zugeschnitten, der am Arbeitsmarkt partizipiert.35
Eine Durchbrechung des strikten sozialrechtlichen Territorialitätsprinzips stellt es auch dar, wenn der Gesetzgeber für Personen, die nach Ablehnung des Asylantrages ausreisepflichtig sind und abgeschoben werden dürfen, aber wegen praktischer Hindernisse nicht abgeschoben werden können, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz kürzt. Aus Sicht der deutschen Rechtsordnung verfügen diese Personen über keine Bindung an die deutsche Gesellschaft; eine Aufenthaltsperspektive haben sie nicht. Es stellt sich die Frage, ob hierin eine nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unzulässige – migrationspolitische – Relativierung des sozialstaatlichen Gehalts der Menschenwürde liegt.36 Mit anderen Worten: Hat die Ableitung des Existenzminimums aus der Menschenwürde zur Folge, dass jedwede Abstufung nach der Intensität der Bindung der Betroffenen an Deutschland und der – fehlenden – Bleibeperspektive unzulässig ist? Wäre dies so, läge hierin allerdings – hierauf weist Daniel Thym zu Recht hin – weniger die Beachtung der Menschenwürde als universelles Prinzip, da international ein geringeres Schutzniveau besteht, als vielmehr die Universalisierung eines grundgesetzlich determinierten Menschenwürdekonzepts.37 Ob Abstufungen beim sozialstaatlichen Gehalt der Menschenwürde verfassungsrechtlich Bestand haben, bleibt abzuwarten. Es ist indes nicht ausgeschlossen, dass in Anknüpfung an den bestehenden Aufenthaltsstatus bzw. eine bestehende Ausreisepflicht Differenzierungen zulässig sind, die insbesondere das sozio-kulturelle Existenzminimum und damit die Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe betreffen.
II. Diskriminierungs- statt Minderheitenschutz
Das Grundgesetz als freiheitliche Verfassung räumt Ausländern wie Inländern die Freiheit zur Entfaltung ein. Dies gilt im Bereich von Sprache und Religion sowie der Lebensführung allgemein. Das Grundgesetz anerkennt in der grundrechtlichen Freiheit des Einzelnen dessen Recht auf Selbstidentifikation. Die liberale Ausrichtung des Grundrechtsschutzes verbietet es, den Zuwanderern eine Identität zuzuschreiben, sie gar auf die Bewahrung der Identität ihres Herkunftslandes zu verpflichten. Andererseits verbietet die Grundrechtsordnung aber auch den Zwang zur Assimilation jenseits der allgemeinen Rechtsbefolgungspflicht. Im Zentrum der pluralen Ordnung des Grundgesetzes steht die Freiheit des Einzelnen, die auch gemeinsam mit anderen ausgeübt werden kann, nicht aber die institutionelle Absicherung von Gruppenrechten. Grundrechtliche Freiheit entfaltet sich nicht über die Zugehörigkeit zu Gruppen, sondern bezogen auf die Gesellschaft als Ganzes.38 Dies ist eine Absage an kollektivistische Ansätze eines Verfassungsrechts der Multikulturalität. Eine liberale Grundrechtsordnung setzt demgegenüber auf die Sicherung von individueller Freiheit und Chancengleichheit und den Schutz vor Diskriminierungen.
III. Keine Differenzblindheit des Grundgesetzes
Während im Vorangegangenen der Fokus auf Teilhabe, Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung ungeachtet kultureller Unterschiede im weitesten Sinne gelegt worden ist, soll im Folgenden ein weiterer Aspekt gesellschaftlicher Integration angesprochen werden, der auf die Anerkennung von Verschiedenheit in der freiheitlichen Gesellschaft zielt. Diese Anerkennung markiert den Charakter des Grundgesetzes als eine Ordnung, die Pluralität ermöglicht und schützt. Dieser Schutz kommt zunächst darin zum Ausdruck, dass allgemeine Gesetze in Hinblick auf das mit ihnen verfolgte Regelungsziel keine unzumutbaren Belastungen für den einzelnen Grundrechtsträger mit sich bringen. Ob dies der Fall ist, ist im Einzelfall durch Abwägung zu ermitteln. Dieser Schutz zeigt sich aber auch in der besonderen Religionsfreundlichkeit des Grundgesetzes, das dem Religiösen Eingang in den öffentlichen Raum verschafft, etwa in die staatliche Schule. Religiöse Verschiedenheit in der Einwanderungsgesellschaft wird dadurch in besonderer Weise sichtbar. Der Umgang mit dem islamischen Kopftuch der Lehrerin an einer staatlichen Schule wird derart zum Grundrechtsproblem, das zugunsten der Religionsfreiheit der Lehrerin aufgelöst worden ist. Das Kopftuch der Schülerin ist als selbstverständliche Ausübung der Religionsfreiheit akzeptiert ebenso wie die Kippa des jüdischen Schülers. Anders verhält sich dies bei dem Kopftuch der Rechtsreferendarin im Gerichtssaal. Hier haben die Länder die Möglichkeit, das Kopftuch unter Berufung auf die staatliche Neutralität zu untersagen.39 Die Durchführung des islamischen rituellen Gebets in den Schulräumen einer Berliner Schule während der Unterrichtspausen stellte sich für die Gerichte ebenfalls als Grundrechtskonflikt dar. Im Ergebnis wurde das von der Schule ausgesprochene Verbot aufrechterhalten, da eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens plausibel dargelegt worden war. Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe, die hier zur Anwendung kommen, sind Ausdruck einer religionsrechtlichen Ordnung, die die Gretchenfrage „Wie hältst Du es mit der Religion?“ im Sinne eines weiten Verständnisses der Religionsfreiheit und einer positiven Neutralität beantwortet, die die Religion nicht – wie im laizistischen Frankreich – auf die rein private Sphäre verweist. Dies setzt sich fort im institutionellen Bereich. Hier räumt das Grundgesetz den Religionsgemeinschaften weitreichende Möglichkeiten der Selbstbestimmung und Entfaltung im öffentlichen Raum ein durch staatlich finanzierten Religionsunterricht, durch das Bereitstellen einer spezifischen Organisationsstruktur, durch den öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus usf.
Im Grundsatz stehen liberalen Staaten wie Deutschland zwei Optionen offen im Umgang mit zugewanderten Religionen; den Weg der Religionsfreundlichkeit auf sich neu im Land etablierende Religionsgemeinschaften zu erstrecken oder – als Kontrastprogramm dazu – die den Religionsgemeinschaften eingeräumten Wirkungsmöglichkeiten generell zurückzubauen. Zugespitzt könnte man hier von den Alternativen „alle Rechte für alle“ oder „keine Rechte für irgendeine“ sprechen. Das Grundgesetz hat sich klar für eine Religionsakzeptanz im öffentlichen Raum entschieden. Im Ergebnis führt dies zu einer religiösen Pluralität, die multikulturelle Züge trägt. Dies dient bei richtiger Handhabung nicht nur der Freiheit, sondern auch der gesamtgesellschaftlichen Integration. Ob diese Offenheit gegenüber dem Religiösen aber immer dazu führen muss, dass im Namen der individuellen Religionsfreiheit Konzepte der distanzierenden Neutralität, wie sie in einer Reihe von Ländern nach dem ersten Kopftuchurteil mit Blick auf religiöse Zeichen von Lehrkräften umgesetzt worden sind, zurückstehen müssen, soll an dieser Stelle offenbleiben. Für die Rechtsreferendarin hat das Bundesverfassungsgericht anders entschieden. Nur so viel: In Zeiten zunehmender religiöser Pluralisierung und Individualisierung kann ein übergreifendes, alle Bedürfnisse gleichermaßen berücksichtigendes Neutralitätskonzept an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit kommen und möglicherweise sogar desintegrative Wirkungen haben.
IV. Politische Teilhabe und Einbürgerung
Am Ende dieser Überlegungen sollen einige Bemerkungen zum Verhältnis von politischer Teilhabe und Einbürgerung stehen. Während politische Partizipationsrechte für alle gelten, setzt das Wahlrecht – abgesehen vom Kommunalwahlrecht für EU-Ausländer – die Vollmitgliedschaft als Staatsbürger voraus.40 Dies wird zunehmend kritisch gesehen und jedenfalls für das Kommunalwahlrecht eine Öffnung vorgeschlagen, um die Kluft zwischen staatlichem Legitimationssubjekt und Wohnbevölkerung aufzulösen.41 Der deutsche Gesetzgeber ist dieses Problem auf der Ebene der Einbürgerung angegangen und hat den Bürgerstatus für Zuwanderer durch die Schaffung von Einbürgerungsansprüchen – beginnend in den 90er Jahren – großzügig geöffnet. Dies ist richtig. Dass die Einbürgerungszahlen gleichwohl niedrig bleiben, liegt nicht an unüberwindbaren Hürden für den Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft, sondern wohl eher am mangelnden Zusatznutzen einer Einbürgerung, der sich im Grunde im Wahlrecht erschöpft.
Über das strikt formale Kriterium der Staatsangehörigkeit wird bestimmt, wer Teil des deutschen Volkes als Zurechnungseinheit demokratischer Entscheidungen ist.42 Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass hierin „keine Projektionsfläche für eine angewandte Volksmythologie“ liegt.43 Das Staatsangehörigkeitsrecht ist nicht das Instrument zur Formung eines präexistenten, jedenfalls in seiner Mehrheit ethnisch und kulturell homogenen deutschen Volkes, sondern das Ergebnis demokratisch gesetzten Rechts. Denn die Deutschen beschreibt das Grundgesetz formal als jene, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Es ist Angelegenheit des Gesetzgebers zu bestimmen, wer dies ist. Das Grundgesetz enthält kein substantialistisches Nationalstaatskonzept, das auf ein vorgefundenes – homogenes – deutsches Volk zu beziehen ist.44 Die aktuelle Zusammensetzung des deutschen Volkes entspricht dem bereits seit Jahren nicht. Aktuell leben in Deutschland um die 15,3 Millionen eingebürgerte Deutsche;45 das Einbürgerungspotential ist damit allerdings bei weitem nicht ausgeschöpft, denn viele Ausländer lösen ihren Einbürgerungsanspruch nicht ein. Deutschland ist ein Einwanderungsland und die deutsche Gesellschaft ist eine Einwanderungsgesellschaft. An dieser Grundentscheidung ändern auch die aktuellen Bemühungen um eine Begrenzung und bessere Steuerung der irregulären Migration nichts. Deutschland hat sich für die Zuwanderung aus der EU und seit geraumer Zeit auch für die Arbeits- und Bildungsmigration von Drittstaatsangehörigen geöffnet.46 Die Aufnahme von Flüchtlingen mit Schutzanspruch und der Familiennachzug sind weithin durch unionsrechtliche Regelungen determiniert, an deren Schaffung Deutschland mitgewirkt hat.47 Integrationsgesetze auf Ebene von Bund und Ländern gestalten den Integrationsprozess für die Einwanderer in den unterschiedlichen Sachbereichen aus und ermöglichen bei Vorliegen von Integrationsvoraussetzungen den Weg in den Daueraufenthalt bis hin zur Einbürgerung. Eine Gesellschaft verändert sich, auch durch Einwanderung. Identität in einer offenen und pluralen Gesellschaft ist niemals statisch, sondern wandelt sich.48 Vorrechtliche Inhaltsdefinitionen von Gemeinschaften helfen hier nicht weiter, wohl aber das Vorhandensein eines gesellschaftlichen Wertefundaments mit Gemeinsamkeiten und Verbindlichkeiten, die jenseits aller Aushandlungsprozesse Bestand haben und ohne die ein Gemeinwesen auf die Dauer nicht funktionieren kann. Wie wichtig, wie geradezu existentiell ein solch gemeinsames Fundament ist, sahen und sehen wir im Gefolge des Terrorangriffs der terroristischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, wenn die Gräueltaten der Hamas bejubelt werden und Antisemitismus offen ausgelebt wird.
Zur Sicherung dieses Grundkonsenses räumt das Einbürgerungsrecht dem Integrationsparadigma, d.h. der Hinwendung zum deutschen Gemeinwesen im Sinne der Ermöglichung und möglichsten Sicherung demokratischer Mitwirkung, starkes Gewicht ein. Verständigung und demokratische Interaktion müssen möglich sein. Das geltende Recht setzt das Vorliegen von Integrationsfaktoren für die Einbürgerung daher voraus – deutsche Sprachkenntnisse und soziokulturelles Grundwissen, Mindestaufenthaltsdauer, Straffreiheit und die Fähigkeit zur Sicherung des Lebensunterhaltes.49 Als weitere Zugangsvoraussetzung fordert das Gesetz die Loyalität gegenüber der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Gefordert wird insoweit nunmehr auch ein Bekenntnis zur besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die nationalsozialistische Unrechtsherrschaft und ihren Folgen, insbesondere für den Schutz jüdischen Lebens.50 Ausdruck einer mangelnden Loyalität sollen – so die anstehende Reform der Einbürgerungsregeln nun explizit – antisemitische, rassistische oder sonstige menschenverachtend motivierte Handlungen sein.51 Derartige Handlungen sind mit der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes unvereinbar und verstoßen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetzes und schließen die Einbürgerung aus.52 Explizit wird die Einbürgerung nunmehr auch ausgeschlossen, wenn der Ausländer mit mehreren Ehegatten verheiratet ist oder durch sein „Verhalten zeigt, dass er die im Grundgesetz festgelegte Gleichberechtigung von Mann und Frau missachtet“.53 Insgesamt ist hierin das Anliegen begründet, die Funktionsbedingungen des demokratischen Rechtsstaats zu sichern. Das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist keine Garantie für eine entsprechende innerliche Haltung, aber sein Einfordern doch Ausdruck einer nachhaltigen und berechtigten Erwartung der Einwanderungsgesellschaft, der nach außen Ausdruck verliehen wird im Einbürgerungsprozess.
- Vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), Unter Einwanderungsländern: Deutschland im internationalen Vergleich, Jahresgutachten 2015, S. 91. [↩]
- BAMF, Asylgeschäftsstatistik Gesamtjahr und Dezember 2023, 08.01.2024, abrufbar unter: https://www.bamf.de/SharedDocs/Meldungen/DE/2024/240108-asylgeschaeftsstatistik-dezember-und-gesamtjahr-2023.html (zuletzt abgerufen am 09.01.2024). [↩]
- Vgl. H. Kolb, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts (BT-Drs. 20/3717), S. 2. [↩]
- SVR (Fn. 1), S. 91. [↩]
- Vgl. SVR (Fn. 1), S. 92. [↩]
- Vgl. hierzu SVR (Fn. 1), S. 91 ff. [↩]
- SVR (Fn. 1). [↩]
- SVR (Fn. 1), S. 91, unter Bezugnahme auf M. Wright/I. Bloemraad, Is there a Trade-off between Multiculturalism and Socio-Political Integration? Policy Regimes and Immigrant Incorporation in Comparative Perspective, in: Perspective on Politics, Vol. 10:1 (2012), 77 (78). [↩]
- Siehe SVR (Fn. 1), S. 93 ff. [↩]
- R. Koopmans, Trade-offs between Equality and Difference: Immigrant Integration, Multiculturalism and the Welfare State in Cross-National Perspective, in: Journal of Ethnic and Migration Studies, Vol. 36:1 (2010), 1 (7). [↩]
- Vgl. SVR (Fn. 1), S. 95. [↩]
- Vgl. SVR (Fn. 1), S. 96. [↩]
- SVR (Fn. 1), S. 93 f. [↩]
- Vgl. SVR (Fn. 1), S. 93. [↩]
- Siehe hierzu SVR (Fn. 1), S. 97 ff. [↩]
- SVR (Fn. 1), S. 91. [↩]
- SVR (Fn. 1), S. 92. [↩]
- Vgl. SVR (Fn. 1), S. 92. [↩]
- Vgl. H. Kolb (Fn. 3) S. 3 f.; H. Kolb, Integration für alle sofort? Grundsätzliches angesichts eines Wertungswiderspruchs im Chancenaufenthaltsgesetz, ZAR 2023, 60 (61 f.). [↩]
- Mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes 2005 hat sich Deutschland erstmals Regelungen zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung gegeben und zugleich die Förderung der Integration als politische Aufgabe formuliert. In § 43 Aufenthaltsgesetz heißt es seitdem: „Die Integration von rechtmäßig auf Dauer im Bundesgebiet lebenden Ausländern in das wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben in der Bundesrepublik Deutschland wird gefördert und gefordert“. [↩]
- D. Thym, Stellungnahme in der Öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestags am Montag, den 28. November 2022 über […] den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts (Chancen-Aufenthaltsrechtsgesetz), (BT-Drs. 20/3717), S. 2, 19 f.; H. Kolb (Fn. 3), S. 4; H. Kolb (Fn.19). [↩]
- H. Kolb (Fn.19), 61 f. [↩]
- H. Kolb (Fn.19), 62 f. [↩]
- C. König, in: Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 71. Edition, Stand: 01.12.2023, § 31 SGB II, Rn. 52; § 31a SGB II, Rn. 1a ff. [↩]
- Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB-Kurzbericht Nr. 14/2023, Arbeitsmarktintegration ukrainischer Geflüchteter; D. Thränhardt, Mit offenen Armen – die kooperative Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine in Europa, Friedrich-Ebert-Stiftung, FES diskurs, S. 25 ff. [↩]
- BVerfGE 51, 1 (30); 90, 27 (37); A. Nußberger, in: Sachs GG, 9. Aufl. 2021, Art. 3, Rn. 299; J. von Achenbach, in: Dreier GG, 4. Aufl. 2023, Art. 3, Rn. 78. [↩]
- C. Langenfeld (Fn. *), 682. [↩]
- C. Langenfeld (Fn. *), 682. [↩]
- Vgl. dazu H. Kolb (Fn.19), 60 f. [↩]
- Hierzu bereits C. Langenfeld (Fn.*), 681. [↩]
- Näher dazu H. Kolb (Fn. 3), S. 2 f. [↩]
- Zu den mit dem Chancenaufenthaltsgesetz verbundenen dysfunktionalen Wirkungen bei Regularisierungen, etwa dann, wenn im Gefolge der Herabsetzung der Wartedauer bei § 25a Aufenthaltsgesetz auf drei Jahre Aufenthalt angesichts der langen Dauer der verwaltungsgerichtlichen Verfahren eine Regularisierung bereits wenige Wochen nach rechtskräftiger Beendigung des Asylverfahrens in Betracht kommen kann, D. Thym, (Fn. 21), S. 11 ff. [↩]
- Hierzu bereits C. Langenfeld (Fn. *), 683. [↩]
- Vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano); EuGH, Urt. v. 15.09.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic); Neufassung vor allem des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II durch Gesetz vom 22.12.2016 (BGBl. I 2016, 3155). [↩]
- S. Magiera, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 21 AEUV, Rn. 31 ff. [↩]
- Siehe C. Langenfeld (Fn. *), 683. [↩]
- D. Thym, Migrationsfolgenrecht, VVDStRL 76 (2017), 169 (182). [↩]
- C. Langenfeld (Fn. *), 683. [↩]
- BVerfGE 153, 1 (40 f., Rn 92). [↩]
- So das BVerfGE 83, 37 (50 ff.) im Urteil zum Kommunalwahlrecht für Ausländer. [↩]
- Für eine „vorsichtige“ Öffnung etwa D. Thym (Fn. 38), 190. [↩]
- C. Langenfeld (Fn.*), 684. [↩]
- K. F. Gärditz, Der Bürgerstatus im Lichte von Migration und europäischer Integration, VVDStRL 72 (2013), 49 (108 f.). [↩]
- D. Thym, Vom ‘Fremdenrecht’ über die ‘Denizenship’ zur ‘Bürgerschaft’, Der Staat 57 (2018), 77 (105). [↩]
- Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 158 vom 20.04.2023, abrufbar: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/04/PD23_158_125.html#:~:text=Pressemitteilung%20Nr.%20158%20vom%2020.%20April%202023&text=WIESBADEN%20–%20Im%20Jahr%202022%20lebten,%3A%2019%2C0%20Millionen (zuletzt abgerufen am 07.01.2024). [↩]
- Kolb, ZAR 2023, 60 (63). [↩]
- Vgl. C. Langenfeld (Fn. *). [↩]
- C. Langenfeld (Fn. *), 684. [↩]
- Siehe § 10 StAG. [↩]
- Vgl. BT-Drs. 20/10093 zur weiteren Ergänzung von § 10 Abs. 1 StAG (Beschlussempfehlung des Innenausschusses vom 17.1.2024, S. 6; zur Begründung siehe S. 10). [↩]
- Vgl. § 10 Abs. 1 S. 3 StAG-E, BT-Drs. 20/9044, S. 8, zur Begründung siehe S. 35 f. [↩]
- Vgl. BT-Drs. 20/9044, S. 36. [↩]
- So § 11 S. 1 Nr. 3 lit. b) StAG-E, BT-Drs. 20/9044, S. 9, zur Begründung siehe S. 38 f. dito. [↩]
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