In weiter Ferne scheint der berühmte Satz „Wir schaffen das“ von Angela Merkel zu liegen, den sie im Zusammenhang mit der Integration syrischer Flüchtlinge in Deutschland im Spätsommer 2015 geäußert hat. Dieser Satz ging um die Welt, hat manchmal Hoffnung geweckt, aber auch zu Diskrepanzen mit Ländern geführt, welche – wie Frankreich – in Sachen Migrationspolitik weniger offen waren. Auf den ersten Blick dürften jedoch die Gemeinsamkeiten im Migrationsbereich überwiegen: Beide Staaten befinden sich in einem ähnlichen Stadium der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Beide sind Einwanderungsländer und unterliegen bei der Umsetzung des Asylrechts denselben Regeln, nämlich dem Recht der Europäischen Union und der Genfer Flüchtlingskonvention. Zudem sind dieselben Spannungen anzutreffen: Aus ethischer Sicht kann sich niemand damit zufriedengeben, dass sich das Mittelmeer in einen Friedhof verwandelt. Gleichzeitig muss es gelingen, Ausländer aufzunehmen (die auch den Bedarf an Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt decken) und dabei die soziale Akzeptanz zu bewahren – was angesichts des Erstarkens von xenophoben Bewegungen eine große Herausforderung zu sein scheint.
2024 stehen die Zeichen der Zeit eher auf Rückzug1, als ob Integration auf der einen und Abschottung auf der anderen Seite nach einem Pendelsystem funktionierten, das von Wirtschaftskrisen und politischen Bestrebungen in den verschiedenen Ländern bestimmt wird.2 Die Aufnahmebereitschaft hat sich in Deutschland in der Aufnahme von mehr als einer Million Syrern und später von ebenso vielen Ukrainern niedergeschlagen. Womöglich ist nun die Zeit der Ernüchterung gekommen. Eine vergleichbare Aufnahmepraxis hat es in Frankreich nicht gegeben, wo im selben Zeitraum nur einige Zehntausend Menschen aufgenommen wurden3. Mehr noch, die Vermischung von verschiedenen Kategorien von Ausländern, von Einwanderungsgründen, von Personen mit der französischen Staatsangehörigkeit (aber mit Migrationshintergrund) und Ausländern (mit einer anderen Staatsangehörigkeit) führt zumindest in Frankreich zu einer irrationalen Vorstellungswelt, zu einer „Erzählung“ über die Einwanderung, die nicht der Realität entspricht,4 und zum Aufkommen feindseliger Reaktionen.
Abgesehen von diesen politisch motivierten Feststellungen wird das Thema „Ausländer“ aus rechtlicher und theoretischer Sicht im französischen und im deutschen Verwaltungsrecht unterschiedlich angegangen. Obwohl sich der vorliegende Beitrag auf die Darstellung des französischen Rechts beschränkt, führte er zu angeregten Diskussionen mit meinem Kollegen Nils Schaks5, dem Autor des deutschen Beitrags zu demselben Thema, da wir offensichtlich nicht auf die gleiche Weise an das Thema herangehen. Eine der Erklärungen mag auf individuelle Gründe (unsere jeweiligen Forschungsgebiete) zurückzuführen sein, die Haupterklärung ergibt sich jedoch aus der Ausrichtung der beiden Verwaltungsrechte.
Bekanntlich beruhen das deutsche und das französische Verwaltungsrecht auf unterschiedlichen kulturellen und institutionellen Grundlagen, was sich auch auf die Art und Weise auswirkt, wie das Verwaltungsrecht jeweils konzeptualisiert wird. Wegen der verwaltungsgerichtlichen Perspektive (prisme du contentieux) ist es der erste Reflex eines französischen Verwaltungswissenschaftlers, an die gerichtliche Kontrolle von ausländerbezogenen Akten zu denken und nicht an verwaltungsrechtliche Integrationsmaßnahmen. Dazu kommt, dass Einwanderungsfragen in Frankreich innerhalb des Polizeirechts und nicht des Leistungsrechts (service public) behandelt werden. Im französischen Recht fallen Einwanderungsfragen im weitesten Sinne unter das Ausländer- und Asylrecht, welches ein besonderer Teil des Polizei- und Ordnungsrechts darstellt (droit de police administrative spéciale). So besteht die vorherrschende Tendenz darin, Ausländer zu kontrollieren, damit jede etwaige Gefahr abgewendet werden kann. Der Ausländer wird nicht in erster Linie aufgrund seines Verhaltens kontrolliert (was im Strafrecht der Fall ist), sondern allein aufgrund seines Status, weil er nicht die französische Staatsangehörigkeit besitzt.6
Die tieferen Gründe für diese Kontrolle sind unterschiedlicher Natur, und die Rechtfertigungen variieren je nach Epoche. Von Anfang an wurde argumentiert (und gleichzeitig bestritten), dass Ausländer aufgrund ihrer Andersartigkeit die Einheit der Nation und ihre kulturelle und soziale Identität in Frage stellen könnten. In den 1970er Jahren, als die Arbeitslosigkeit stark anstieg, war die Argumentation, dass der Ausländer auf dem Arbeitsmarkt den Platz eines Franzosen einnehmen würde, weit verbreitet. Gegenwärtig, da man auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen ist, um dem Fachkräftemangel auf dem Arbeitsmarkt in bestimmten, als „angespannt“ bezeichneten Berufen7 entgegenzuwirken, dominiert das Argument der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung.8 Auch wenn diese Tendenz nicht neu ist und Gefahrenabwehr ein klassisches Ziel des Verwaltungspolizeirechts darstellt, wird sie in jüngster Zeit durch eine Ausweitung dieses Begriffs verstärkt. Im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht findet ein Wandel statt: die Begriffe Prävention und Repression vermischen sich und nunmehr reicht das bloße Risiko einer Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung aus, um Maßnahmen zu ergreifen, die als präventive Repression bezeichnet werden. Dies zeigt sich bei Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und hat auch Auswirkungen auf das Ausländerrecht.9 Selbst die wenigen Integrationsinstrumente werden aus diesem Blickwinkel betrachtet.
Deshalb fällt es derzeit schwer, eine echte Integrationspolitik in Frankreich zu erkennen. Man könnte in einem ersten Schritt meinen, dass es eine Ausprägung der Integrationspolitik wäre, dass jeder Einzelne gleichermaßen und unabhängig von seiner Nationalität Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen (z.B. Schule, Gesundheit oder Justiz) hat. Momentan ist dies jedoch nur teilweise gewährleistet und jüngste Versuche, das Recht von Ausländern auf Zugang zur medizinischen Grundversorgung im Rahmen der staatlichen Gesundheitsfürsorge (l’aide médicale d’État) abzuschaffen,10 sind sogar gegenteilige Bestrebungen. Ein weiterer Schritt besteht darin, spezifische Leistungen nur für Ausländer vorzusehen. Es existieren zum Beispiel Einbürgerungsfeiern, die von einigen Präfekturen, Rathäusern oder Konsularbehörden organisiert werden, um die neuen französischen Staatsbürger zu ehren. Diese Feiern bestätigen aber eher die erfolgte Integration, als dass sie zuvor die Integration förderten. Auch die Tatsache, dass es mit dem Französischem Amt für Integration und Einwanderung (Office français de l’intégration et de l’immigration – OFII) eine entsprechende Einrichtung gibt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Maßnahmen zugunsten von Ausländern zahlenmäßig gering sind oder zumindest weist es darauf hin, dass eine Auswahl zwischen denjenigen getroffen wird, die in Frankreich bleiben und denjenigen, die nicht bleiben können.11
Bemerkenswert ist ebenfalls, dass Einwanderungsfragen nicht unter dem Blickwinkel des „service public“ (staatliche Leistungsverwaltung), sondern des Polizeirechts behandelt werden, was angesichts des Aufbaus des französischen Verwaltungsrechts paradox ist. Das Mittel der Kontrolle hat sich gegenüber dem Mittel der Integration durchgesetzt, die Polizei gegenüber dem Sozialen. Das Hauptziel bleibt, über das Ausländerrecht, den „wesensmäßigen Gegenstand des Staates“12, „ein Territorium zu beherrschen, um die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten“13. Und wenn der „service public“ erwähnt wird, dann v.a. um auf die Mängel beim Zugang zu den Diensten der Präfekturen, welche für Ausländerangelegenheiten zuständig sind, hinzuweisen.
Das Ausländerrecht hat seinen Ursprung in den 1830er Jahren14 und wurde lange Zeit durch eine Verordnung (ordonnance) aus dem Jahr 1945 geregelt, die bis zur Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzbuches immer wieder geändert wurde. Seit den 1990er Jahren wurden mehr als 20 Gesetze in diesem Bereich verabschiedet, das letzte wurde am 26. Januar 2024 verkündet.15 Ein solches Vorgehen wurde in den letzten Jahrzehnten häufig kritisiert, weil die Gesetze geschwätzig geworden seien,16 weil sie bei dem geringsten Vorfall entsprechend geändert werden. Die Kodifizierung des Ausländerrechts im Jahr 2005 im Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und das Asylrecht (Code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile – CESEDA) hat an diesem Phänomen nichts geändert, was beweist – wenn daran überhaupt ein Zweifel bestand –, dass Kodifizierung nicht zwangsläufig mit Stabilität einhergeht. Im Gegenteil, das Ausländerrecht ist ein anschauliches Beispiel für mangelnde Zugänglichkeit und Verständlichkeit des Gesetzes, obwohl dies verfassungsrechtliche Ziele sind, die vom Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) seit 1999 anerkannt sind.17
Im akademischen Bereich gibt es nur wenige Spezialisten auf diesem Gebiet18, und an den Universitäten werden nur einige wenige Lehrveranstaltungen auf Master-Niveau angeboten. Im Gegensatz dazu sind Vereine und Interessenverbände (insbesondere GISTI und Cimade) äußerst aktiv, vor allem im Bereich der Rechtsberatung von Ausländern,19 sowie einige Anwälte, die sich für die Verteidigung dieser (vielfach) schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppen vehement einsetzen. Auf Seiten der Verwaltung sind auf nationaler Ebene das Innenministerium und auf lokaler Ebene die Präfekturen, insbesondere die Abteilung für Aufenthaltsgenehmigungen, zuständig. Wahrscheinlich leiden diese Ämter noch mehr unter mangelnden finanziellen und personellen Ressourcen als der restliche öffentliche Dienst (die diesen Abteilungen zugeteilten Beamten versuchen oft die Abteilung so schnell wie möglich wieder zu verlassen20).
Es wäre angesichts der fortlaufenden Änderungen der Gesetzgebung weder vernünftig noch angemessen, alle anwendbaren Regeln im Detail zu erläutern. Das Asylrecht kann aus der Untersuchung ausgeklammert werden21, weil es bereits von anderen Kollegen behandelt wurde, aber auch, weil es weitgehend europäisiert ist und daher wahrscheinlich die aktuellen Herausforderungen der einzelnen nationalen Verwaltungsrechte weniger widerspiegelt. Darüber hinaus sind die behandelten Themen in diesem Zusammenhang größtenteils geopolitischer Natur, wenn es beispielsweise darum geht, die Gefahren zu bewerten, denen eine Person ausgesetzt ist, die Asyl beantragt.22 Stattdessen soll ein Überblick über das französische Recht im Bereich des Ausländerrechts gegeben werden. Der Ausländer unterscheidet sich durch seinen Rechtsstatus von der übrigen Bevölkerung mit französischer Staatsangehörigkeit. Die Kontrollen, denen er unterliegt, führen zu einer nur begrenzten Anerkennung seiner Rechte: Im Allgemeinen werden seine Grundrechte (A) und seine Rechtsgarantien (B) eingeschränkt.
A. Einschränkungen der Grundrechte des Ausländers
In den allermeisten Fällen23 lebt der Ausländer in einem anderen Staat und möchte nach Frankreich einreisen. Daher sind seine Einreise und sein Aufenthalt in Frankreich Gegenstand eines Antrags, woraus sich die Bearbeitung der Anträge durch die französischen Behörden ergibt (I). Der Ausländer genießt auch nicht die gleichen Rechte und Freiheiten wie die französischen Bürger (II).
I. Die Regulierung der Einreise und des Aufenthalts
Der Aufnahmestaat akzeptiert die Einreise des Ausländers, indem er diesem ein Einreisevisum ausstellt.24 Dies ist ein Akt der Souveränität, da kein Recht auf Einreise besteht. Zusätzlich zum Visum muss der Ausländer eine Unterkunftsbescheinigung vorlegen, die den Ort der Unterbringung im Einreiseland angibt. Außerdem muss er nachweisen, dass er über ausreichende Mittel verfügt, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Somit müssen sowohl die finanzielle Autonomie als auch der Aufenthaltsort des Einzelnen von Anfang an und sogar vorgängig garantiert sein. Der Besitz dieser Dokumente ist jedoch nicht immer ausreichend, da die Einreise immer noch aus Gründen der öffentlichen Ordnung25 verweigert werden kann.
Wenn sich ein Ausländer länger als drei Monate im Land aufhält, muss er im Besitz eines Aufenthaltstitels sein. Üblicherweise beantragt er zunächst eine befristete Aufenthaltskarte (sie gestattet es ihm, ein Jahr in Frankreich zu bleiben, bevor er eventuell wieder ausreist). Diese Aufenthaltskarte ist eine Art „Eintrittspforte“ für Ausländer, die länger im Land bleiben möchten. In der Regel kann ihm dann eine mehrjährige Aufenthaltskarte (carte de séjour pluriannuelle, für zwei bis vier Jahre) und schließlich eine Aufenthaltsgenehmigung (carte de résident, gültig für zehn Jahre) ausgestellt werden. 2007 wurde aufgrund der Schwierigkeiten beim Erwerb der französischen Staatsangehörigkeit eine Daueraufenthaltskarte eingeführt, die der Aufenthaltsgenehmigung zwar ähnelt, deren Gültigkeit jedoch nicht zeitlich begrenzt ist. Jeder Schritt, jeder neue Antrag führt zu erneuten Kontrollen. Die Verwaltung hat das Recht, die Situation des Ausländers ständig zu überprüfen. Dieser befindet sich somit in andauernder Unsicherheit, da die Genehmigungen zeitlich begrenzt sind und jederzeit widerrufen werden können. Nach und nach, je mehr der Ausländer seine gelungene Integration beweisen kann, lockern sich allmählich die behördlichen Kontrollen.
Je nach Art der Aufenthaltserlaubnis unterscheiden sich zwar die zu erbringenden Nachweise, die Verfahren haben jedoch auch einige Gemeinsamkeiten: Der Ausländer muss nachweisen, dass er rechtmäßig nach Frankreich eingereist ist, dass er sich dort regelmäßig oder sogar ununterbrochen aufhält (für die carte de résident) und dass er über stabile und ausreichende Einkünfte verfügt. Darüber hinaus muss der Ausländer seit 200626 seine „republikanische Integration“ nachweisen. Ein „Vertrag“ über die republikanische Integration (contrat d’intégration républicaine – nur dem Namen nach ein Vertrag), der ein Jahr gültig ist und einmal verlängert werden kann, wird von dem Französischen Amt für Integration und Einwanderung (OFII) erstellt und muss vom Präfekten und dem Ausländer unterzeichnet werden. Der Ausländer erhält dadurch eine gewisse staatsbürgerliche und sprachliche Bildung. Er wird mit den französischen Institutionen und den Werten der Republik vertraut gemacht, beispielsweise mit dem Prinzip der Gleichheit von Mann und Frau, der Laizität, Solidarität und Staatsbürgerschaft. Bereits an der Art und Weise, wie der Vertrag den Ausländern präsentiert und von ihnen verstanden wird, besteht Anlass zur Kritik.27 Zudem bestehen Vorbehalte bezüglich des Nutzens eines solchen Vorgehens über seine bloße Symbolkraft hinaus – auch wenn die Symbolik alleine nicht zu vernachlässigen ist.
Der Präfekt verfügt grundsätzlich (mit zahlreichen Ausnahmen) über einen ziemlich großen Ermessensspielraum bei der Erteilung der Genehmigung, nachdem er die konkrete Situation des Antragstellers beurteilt hat. Er kann die Ausstellung auch ablehnen oder die Genehmigung entziehen, wobei die Ablehnung nicht nur ordnungsgemäß bekanntgegeben, sondern auch begründet werden muss.28 Der Antragsteller muss außerdem eine Gebühr entrichten, die mit der Erteilung der Genehmigung verbunden ist.29 In jedem Fall ist das Verfahren langwierig und zwischen der Antragstellung und der Verbescheidung vergeht viel Zeit. Für diese Zwischenzeit wird dem Antragsteller eine Empfangsbescheinigung (un récépissé) ausgestellt, damit er sich für die Dauer des Verfahrens vorläufig rechtmäßig in Frankreich aufhalten kann. Je nach Art der beantragten Genehmigung ermöglicht die Empfangsbescheinigung auch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit.
Auf dem Papier, im sogenannten „law in books“, scheint die Situation gut geregelt zu sein. In der Praxis bestehen allerdings seit langem Schwierigkeiten. Sie sind vor allem darauf zurückzuführen, dass die für die Bearbeitung der Anträge zuständigen Stellen zu wenige Ressourcen haben – womöglich absichtlich, aber das ist eine andere Debatte. Insbesondere in den 2010er Jahren mussten die Antragsteller in einigen Präfekturen (vor allem im Großraum Paris) ihre Anträge persönlich in physischer Form einreichen. Die dafür vorgesehenen Zeitfenster reichten jedoch nicht aus, um an die Reihe zu kommen. In der Hoffnung trotzdem einen Termin zu bekommen, warteten einige die ganze Nacht oder sogar mehrere Nächte vor dem Amtsgebäude. Eine andere Möglichkeit bestand darin, den Rechtsweg zu beschreiten und das Verwaltungsgericht anzurufen, damit dieses die Verwaltung anweist, dem Antragsteller einen Termin anzubieten.30 Deshalb wurden die Verwaltungsgerichte in einer Vielzahl von Fällen angerufen, die oft von Erfolg gekrönt waren, was zu einem etwas perversen System führte: die Anliegen der Antragsteller mit einer gerichtlichen Verfügung wurden vorrangig bearbeitet, sodass die Verwaltungsgerichte manchmal als „Sekretariate der Präfekturen“ bezeichnet wurden.
Wie in vielen anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes wurde die Digitalisierung als Lösung für den Mangel an finanziellen und personellen Mitteln angesehen. Seit den 2020er Jahren nimmt die Digitalisierung der Verfahren zu31, was jedoch keine Lösung darstellt, sondern zu weiteren Problemen führt. Diese sind zwar klassisch für den Bereich der Digitalisierung, werden aber wegen der Vulnerabilität der Antragsteller, welche oft über keinen Zugang zu IT-Ressourcen verfügen, noch verschärft. Der Staatsrat (Conseil d’État), der sich dieser Situation bewusst war und von Verbänden gegen ein Dekret aus dem Jahr 202132 angerufen wurde, bremste die Digitalisierung der Verfahren. Er hielt fest, dass die Möglichkeit eines physischen Zugangs für Individuen bestehen müssen, welche keinen Zugang zum digitalisierten Verfahren haben.33
Schließlich wurde die relevante Website mit dem treffenden Namen „l’administration numérique des étrangers en France“ ganz offensichtlich zu geringen Kosten erstellt (wie die meisten anderen staatlichen Websites), sodass es immer wieder zu Fehlfunktionen kommt. Auch Rechtsanwälte, die sich auf Ausländerrecht spezialisiert haben, stellen in ihren Verfahren immer häufiger fest, dass die öffentlichen Dienstleistungen dysfunktional sind. Noch bevor die Ausländer eine Verfügung erhalten und gerichtlich anfechten können, wenden sie sich an die Verwaltungsgerichte, um überhaupt Zugang zu den Behörden zu erhalten, welche erst in einem zweiten Schritt in der Lage sein werden, über den Antrag des Ausländers zu entscheiden. Der Rechtsstreit um die Verfügung bleibt, aber ihm geht ein Rechtsstreit um den Zugang zur Dienstleistung voraus. Diese Feststellung lässt sich im Übrigen auch auf Personen mit französischer Staatsangehörigkeit ausdehnen, wenn es um den Zugang zu anderen öffentlichen Dienstleistungen geht. Andere Einschränkungen gelten jedoch weiterhin nur für Ausländer.
II. Die Ungleichbehandlung von Franzosen und Ausländern
Im Prinzip genießen Ausländer die gleichen Rechte und Freiheiten wie Personen mit französischer Staatsangehörigkeit. Die tatsächliche Situation ist jedoch nicht so eindeutig. Einige Ungleichbehandlungen sind verständlich, während andere eher problematisch erscheinen. Sie äußern sich entweder in unterschiedlichen Verpflichtungen der Ausländer, in Mängeln der öffentlichen Gewalt oder in einer besonderen Auslegung der Gesetze durch die Gerichte, sobald Ausländer betroffen sind.
Die erste Ungleichbehandlung ist offensichtlich: Der Ausländer verfügt nicht über die mit der Staatsbürgerschaft verbundenen Rechte, insbesondere nicht über das Wahlrecht. Vor einigen Jahrzehnten war die Forderung nach dem Ausländerwahlrecht, die inzwischen verschwunden ist, noch Bestandteil des akademischen Diskurses,34 Ziel einiger linker politischer Parteien oder führte zur Durchführung lokaler (nicht entscheidungsrelevanter) Abstimmungen. Umgekehrt werden Ausländern manchmal zusätzliche Verpflichtungen auferlegt. So dürfen Ausländer zwar grundsätzlich arbeiten,35 ihr Arbeitgeber muss dies jedoch gesondert melden,36 was bedeutet, dass das Verfahren bei jedem Wechsel des Arbeitgebers erneut durchgeführt werden muss.
Auf Seiten der öffentlichen Hand ist eine Reihe von Mängeln bei der Betreuung von Ausländern zu verzeichnen, obwohl entsprechende Verpflichtungen gesetzlich vorgesehen sind. Ein typisches Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist der Schutz unbegleiteter Minderjähriger, die ohne Familienangehörige nach Frankreich kommen. Diese Minderjährigen müssen betreut und insbesondere beherbergt werden, was die Departements, denen diese Aufgabe im Rahmen der Sozialhilfe für Minderjährige obliegt, vor enorme Schwierigkeiten stellt. Die Zahl der unbegleiteten Minderjährigen ist in den letzten Jahren explosionsartig angestiegen und das System stößt an seine Grenzen,37 sodass das Verfahren von den Departementen manchmal sogar ausgesetzt wird.38
Die letzte Ungleichbehandlung ist heimtückischer. Aus einigen Entscheidungen geht hervor, dass die Argumentation der Verwaltungsgerichte anders ist, wenn es sich um einen Rechtsstreit handelt, der Ausländer betrifft, ohne dass die Ungleichbehandlung objektiv gerechtfertigt werden kann. Die Aussage kann nicht verallgemeinert werden, aber mindestens zwei Gerichtsverfahren können beispielhaft zur Veranschaulichung angeführt werden.
Der erste Streitfall betrifft die Zerstörung des „wilden Zeltlagers“ von Migranten in Calais. Dort halten sich Tausende von Migranten auf, die sich auf der Durchreise befinden und auf eine Möglichkeit warten, nach Großbritannien zu gelangen. Dies führt zu großen Schwierigkeiten bei der Unterbringung und Verpflegung dieser Menschen und zu starken Spannungen zwischen den staatlichen Behörden und den Hilfsorganisationen für Migranten. Eine Praxis der Ordnungskräfte besteht darin, diese illegalen Lager niederzureißen, um die Zelte und wenigen Habseligkeiten der Migranten zu zerstören und somit die Lager gewaltsam zu räumen. Anfang 2021 baten Journalisten, die über ein solches Ereignis medial berichten wollten, um Zugang zu den Lagern und wurden vom Präfekten abgewiesen. Daraufhin reichten sie in letzter Instanz einen Antrag auf eine einstweilige Verfügung beim Conseil d’État ein. Dieser betonte zwar, dass die Pressefreiheit gewahrt werden müsse, stellte aber auch klar, dass die Existenz eines Bereichs, zu dem Journalisten keinen Zugang haben, gerechtfertigt sei, damit die Sicherheit der Räumung und die Achtung der Würde der evakuierten Migranten gewährleistet werden könne.39 Das Oberste Gericht geht nicht so weit, ausdrücklich zu erklären, dass es darum geht, zu verhindern, dass Journalisten die Würde dieser Personen durch Filmaufnahmen verletzen. Eine solche Interpretation lässt sich jedoch implizit aus der Entscheidung ableiten. Eine alternative Argumentation wäre, dass die Würde dieser Personen hauptsächlich durch das Verhalten des Staates verletzt und durch die Journalisten lediglich enthüllt wird. Es zeigt sich, dass die Bezugnahme und der Umgang mit dem Recht auf Menschenwürde in der Verwaltungsrechtsprechung in Frankreich flexibel sind.40
Der zweite Streitfall betrifft das Ertrinken von Migranten im Mittelmeer, die auf Flößen eingeschifft wurden. Die Häufung solcher tragischen Ereignisse wirft die Frage nach der Verantwortung der Seenotrettungsdienste auf,41 die in manchen Fällen nicht richtig funktionieren und zu spät Hilfe leisten oder den Notruf von in Seenot geratenen Booten zu spät weiterleiten. Derzeit laufen mehrere strafrechtliche und administrative Untersuchungen, um festzustellen, ob die Mitarbeiter dieser Dienste ihre Pflichten verletzt haben (u. a. durch die Auswertung der Aufzeichnungen der eingegangenen Anrufe). Es stellt sich auch die Frage, ob der Staat aufgrund von Amtspflichtverletzungen – im Rahmen des Staatshaftungsrechts – haftbar gemacht werden kann.42 Es wurde bereits ein Fall in einem ähnlichen Kontext entschieden. Es handelte sich um eine Migrantin, die von den Komoren nach Mayotte geflohen und dort gestorben war. Der Conseil d’État erkannte zwar das Fehlverhalten des Staates an, stellte aber auch fest, dass die Klägerin, „deren Gesundheit besonders angeschlagen war, das Risiko eingegangen war, eine gefährliche Überfahrt in einem behelfsmäßigen Boot zu unternehmen“.43 Folglich nimmt das Berufungsgericht, an das der Fall verwiesen wurde, eine Haftungsteilung vor und legt die Haftung des Staates auf (nur) 50% fest.44 Ein solches Argument wäre wahrscheinlich in einem anderen Kontext und gegenüber einem Opfer mit französischer Staatsangehörigkeit nicht vorgebracht worden oder jedenfalls nicht in einem solchen für den Staat entlastendem Ausmaße.
Ausländer werden also strengeren Kontrollen unterworfen. Dies kann sich in zusätzlichen Verpflichtungen oder in einer Einschränkung von anerkannten Rechten äußern und zwar in einem solchen Ausmaß, dass die meisten Fälle, weshalb im Jahr 2022 der „Défenseur des droits“ (Rechtsverteidiger) angerufen wurde, das Ausländerrecht betrafen.45 Ein ähnlicher Trend ist auch auf einer anderen Ebene zu beobachten: Sobald ein Ausländer vor Gericht ziehen will, werden die ihm zustehenden prozeduralen Rechte verringert.
B. Einschränkungen von prozeduralen Rechten von Ausländern
In Ermangelung einer Kodifizierung des allgemeinen Verwaltungsrechts legt die französische Rechtswissenschaft den Schwerpunkt auf die Rechtsprechung, und erfasst die Materie aus der Perspektive des gerichtlichen Verfahrens. Der Conseil d’État legt das Verwaltungsrecht aus, schreibt es aber auch weitgehend selbst. Trotz der Kodifizierung des Ausländerrechts durch das CESEDA (Code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile) verfügen die Verwaltungsgerichte noch über einen gewissen Handlungsspielraum. Dies führt jedoch zu zwei Schwierigkeiten, die eine Reihe von Vorschriften oder Praktiken erklären können, die einen geringeren verfahrensrechtlichen Schutz von Ausländern zur Konsequenz haben oder Kontrollen seitens der Verwaltung verstärken. Einige hängen mit der Natur eines Gerichtsverfahrens zusammen (I), andere mit der Tatsache, dass es sich um Massenverfahren handelt (contentieux de masse) (II).
I. Schwierigkeiten aufgrund der Natur eines Gerichtsverfahrens
Allgemein gesprochen ist der Prozess im Ausländerrecht sehr technisch und erfährt nur wenig Aufmerksamkeit. Er wird oft als „Labor“ für die übrigen Verwaltungsrechtsstreitigkeiten und manchmal sogar als „Labor des Schlimmsten“46 bezeichnet, da in diesem Bereich verschiedene Erprobungen vorgenommen werden, die dann zuweilen auch auf andere Verfahrensarten übertragen werden, jedoch stets zum Nachteil des Klägers. Vor allem aber wirkt sich die materielle Komplexität des Ausländerrechts auf das Gerichtsverfahren aus, da die Regelungen so unterschiedlich sind. Auch die gerichtliche Anfechtung von Entscheidungen in diesem Bereich unterliegt keinen einheitlichen Regeln.
Um bei den großen Prinzipien zu bleiben: Maßnahmen zur Abschiebung von Ausländern sind der häufigste Grund für Gerichtsverfahren. Ein Ausländer kann in verschiedenen Situationen abgeschoben werden, z. B. bei illegaler Einreise nach Frankreich, bei legaler Einreise, aber illegalem Aufenthalt (z. B. bei Verweigerung der Ausstellung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels) oder bei einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung. In allen Fällen hat das sogenannte „Sarkozy“-Gesetz vom 24. Juli 2006 im Bestreben, die Verfahren zu vereinfachen, mit der Einführung der OQTF (obligation de quitter le territoire français), d. h. der Verpflichtung, das französische Hoheitsgebiet zu verlassen, eine Neuerung eingeführt. Ein und dasselbe Dokument vereint mindestens drei Maßnahmen: die Ausweisung aus dem Hoheitsgebiet, der negative Entscheid bezüglich der Aufenthaltsgenehmigung und die Entscheidung, die das Zielland festlegt. Sie kann auch durch ein Rückkehrverbot ergänzt werden. Im Falle einer OQTF muss der Ausländer grundsätzlich innerhalb von 30 Tagen freiwillig ausreisen. Die Verwaltungsbehörde kann in bestimmten Fällen auch die sofortige Vollziehung der Entscheidung anordnen.
Die Quote der gerichtlichen Anfechtungen von OQTFs ist jedoch mit 50% relativ hoch. Jede der ergriffenen Maßnahmen kann Gegenstand einer Anfechtung sein, die sich insbesondere auf die Zuständigkeit der Behörde, die Form und die Frist der Zustellung, einen Rechtsfehler oder auch einen offensichtlichen Fehler in der Sachverhaltsfeststellung bezieht. Abweichend von den Grundsätzen der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit hat der Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung gegen die Vollziehung der Entscheidung (außer in Mayotte).47
Ohne auf die Einzelheiten der vielen verschiedenen Prozessregeln einzugehen, können drei der wichtigsten Vorgaben erwähnt werden. Die erste Kategorie umfasst die OQTF mit der Frist zur freiwilligen Ausreise. Der Ausländer muss innerhalb von 30 Tagen Klage beim Gericht einreichen, welches in der Regel drei Monate Zeit hat, um eine Entscheidung zu treffen. Da die Frist für das Gericht nicht zwingend ist, ist es nicht ungewöhnlich, dass die durchschnittliche Dauer bis zum Erlass eines Urteils bei einigen Gerichten fast ein Jahr beträgt. Die zweite Kategorie betrifft fristlose OQTF, bei denen die Klagefrist 48 Stunden beträgt und das Gericht sechs Wochen Zeit hat, um zu entscheiden. Wenn der Ausländer schließlich zusätzlich zur Ausstellung der OQTF in Verwaltungsgewahrsam genommen oder unter Hausarrest gestellt wird, beträgt die Frist für die Klage 48 Stunden und die Frist für das Urteil 96 Stunden.
Damit diese kurzen Fristen eingehalten werden können, musste sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit anpassen, insbesondere indem Bereitschaftsdienste eingeführt wurden. Die kurzen Fristen stellen aber auch eine Belastung für den Antragsteller dar, der bei der Einreichung seines Antrags schnell sein muss, während die Frist für die Anrufung des Gerichts außerhalb von Ausländerrechtsstreitigkeiten grundsätzlich zwei Monate beträgt. Eine weitere Regel, die ebenfalls weniger günstig für Ausländer ist, wirkt sich auf die Rechtsweggarantie aus. Dabei handelt es sich um Regeln bezüglich der Prozesskostenhilfe. Ausländer haben einen bedarfsabhängigen Anspruch auf Prozesskostenhilfe, wenn sie vor Gericht ziehen wollen.48 In diesem Fall wird der Anwalt vom Staat im Rahmen von in Tabellen festgelegten Vergütungsansätzen bezahlt. Seit etwa zehn Jahren werden Klagen im Bereich des Ausländerrechts jedoch immer geringer vergütet und es ist ein Auseinanderdriften der Vergütungshöhe im Vergleich zu Gerichtsverfahren in anderen Rechtsgebieten festzustellen.49 Diese konkreten und schlicht finanziellen Aspekte entgehen oft der Aufmerksamkeit der Rechtswissenschaft. Dabei sind sie ein relevanter Faktor, um zu verstehen, wie Ausländer tatsächlich betroffen sind und auf welche Hindernisse sie stoßen, wenn sie ihre Rechte geltend machen.
Hinzu kommen weitere Gegebenheiten, die dem nicht praktizierenden Beobachter meist ebenfalls entgehen. Die erste ist auf die historische Feststellung zurückzuführen, dass zwischen den Präfekturen und der Verwaltungsgerichtsbarkeit – insbesondere bei kleineren Verwaltungsgerichten – eine gewisse Nähe besteht. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen Verwaltungsakte durch die Behebung bestimmter Unregelmäßigkeiten geheilt werden. Dabei handelt es sich nicht um eine illegale Praxis, sondern lediglich um eine Nachsicht, die die Verwaltungsgerichte an den Tag legen, indem sie die Verwaltung auffordern Akten zu vervollständigen, oder indem sie die Schriftsätze der Präfektur in einem für diese günstigen Sinne auslegt.50 Der zweite Grund ist der menschliche Faktor. Die Zunahme von Einzelrichterentscheidungen im Bereich des Ausländerrechts in Verbindung mit Open Data51 und einer besseren Zugänglichkeit von Gerichtsentscheidungen ermöglicht es, große Unterschiede bei den Aufhebungsquoten von OQTF zwischen den Gerichten und sogar zwischen den einzelnen Richtern festzustellen. Die Feststellung, dass einige Richter (aufgrund ihrer politischen Überzeugungen oder ihres Amtsverständnisses) günstiger urteilen als andere, kann allmählich wissenschaftlich belegt werden, was auch auf Seiten der Richter, die aus diesem Grund am Kollegialitätsprinzip52 festhalten, Besorgnis hervorrufen kann. Diese Zunahme von Einzelrichterurteilen hängt auch mit einer anderen Reihe von Schwierigkeiten zusammen: der Bewältigung von Massenverfahren.
II. Schwierigkeiten aufgrund von Massenverfahren
Selbst wenn man Asylrechtsstreitigkeiten außer Acht lässt, die nur bei Kassationen vor dem Conseil d’État in die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtsbarkeit fallen, sind Gerichtsverfahren im Bereich des Ausländerrechts die häufigsten Fälle: 43% vor den Verwaltungsgerichten, 54% vor den Berufungsgerichten und 18% vor dem Conseil d’État.53 Diese Situation hat sowohl quantitative als auch qualitative Konsequenzen.
Erstens sind die Gerichte, vor allem in der Eingangsinstanz, mit einer enormen Anzahl an zu bearbeitenden Fällen konfrontiert. Die Einhaltung einer angemessenen durchschnittlichen Urteilsfrist gehört aber zu den Leistungsindikatoren54, die im Zentrum der richterlichen Aufgabenerfüllung stehen. Um den Bestand an Streitfällen und den Zustrom neuer in den Griff zu bekommen, werden verschiedene Maßnahmen ergriffen, die ein perfektes Beispiel für das Prinzip „Regieren nach Zahlen“55 sind. Eine dieser Maßnahmen besteht darin, dass jeder Richter eine bestimmte Anzahl von Fällen bearbeiten muss. Die Norm, die verwendet wird, um die Produktivität der Verwaltungsrichter im Hinblick auf die ihnen gesetzten Ziele zu bewerten,56 geht auf eine Politik zurück, die in den 1960er Jahren von einem Mitglied des Conseil d’État, Guy Braibant, eingeführt wurde (dies erklärt die Bezeichnung „norme Braibant“). Damals musste ein Richter an einem Verwaltungsgericht eine durchschnittliche Jahresproduktivität von 160 Fällen haben, wobei jedoch zu beachten ist, dass die Art der Rechtsstreitigkeiten nicht die gleiche war: Ausländerstreitigkeiten waren ein Restbestand und es gab keine einstweiligen Verfügungen. Obwohl es Kritik daran gibt, wurde diese Messlatte im Großen und Ganzen beibehalten: Jeder Verwaltungsrichter bearbeitet auf der Ebene der Verwaltungsgerichte im Prinzip und im Durchschnitt mindestens acht Fälle pro Verhandlung, bei 20 Verhandlungen pro Jahr.
Dieser Ansatz hat besondere Auswirkungen auf das Ausländerrecht und führt zu den folgenden drei Bemerkungen. Erstens werden jedem Richter von den acht Fällen in der Regel vier sogenannte „Sachfälle“ zugewiesen, d. h. Fälle aus den Bereichen, die der Kammer, der er angehört, zugewiesen sind (z. B. Städtebaurecht), und mindestens vier sogenannte „Ausländerfälle“, d. h. Fälle, die das Ausländerrecht berühren. Angesichts der Masse der zu bearbeitenden Fälle überwiegt somit die Nicht-Spezialisierung. Zweitens gestattet das Ausländerrecht einen Ausgleich bei der Mischkalkulation der zu bearbeitenden Fällen, da Ausländerrechtsfälle – zu Recht oder zu Unrecht – als relativ einfach angesehen werden. Aus diesem Grund zählt nicht jeder Ausländerrechtsfall als ein ganzer Fall. In manchen Gerichten ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Fall im Ausländerrecht nur einen halben Punkt wert ist. Implizit könnte dies auch bedeuten, dass der Richter auf diese Fälle nur halb so viel Zeit aufwenden sollte, was allerdings nicht immer möglich ist. Mangels offizieller landesweit einheitlich geltenden Regeln bestehen schließlich sehr große Unterschiede zwischen den verschiedenen Gerichten.57
Zweitens wirkt sich die unterschiedliche Behandlung auch auf die Anwendung von Rechtsnormen und damit auf qualitative Aspekte aus. Dies wird durch eine Stellungnahme des Conseil d’État vom 10. Oktober 202358 belegt. Im konkreten Fall klagte ein Ausländer dagegen, dass der Präfekt die Registrierung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aufgrund der Unvollständigkeit der Akte verweigert hatte. Die Regeln des Verwaltungsverfahrens werden in Frankreich durch das Gesetz über die Beziehungen zwischen Öffentlichkeit und Verwaltung (Code des relations entre le public et l’administration – CRPA) geregelt, welches das allgemeine Recht in diesem Bereich darstellt. Artikel L. 114-5 hält fest: „Ist ein an die Verwaltung gerichteter Antrag unvollständig, so teilt die Verwaltung dem Antragsteller mit, welche Unterlagen und Informationen nach den geltenden Gesetzen und Vorschriften fehlen. Sie setzt eine Frist für den Erhalt dieser Unterlagen und Informationen“. Das „CESEDA“ verweist seinerseits zwar auf eine Reihe von Unterlagen, die den Antragsunterlagen für einen Aufenthaltstitel beigefügt werden müssen, enthält aber keine Bestimmungen zu den Konsequenzen, die die Unvollständigkeit der Unterlagen mit sich bringt. Der Conseil d’État ist nun der Ansicht, dass „die Bestimmungen des Gesetzbuchs über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und das Asylrecht Sonderbestimmungen darstellen, die die Bearbeitung von Anträgen auf Aufenthaltstitel durch die Verwaltung regeln, insbesondere von unvollständigen Anträgen, deren Registrierung der Präfekt ablehnen kann. Folglich ist das in Artikel L. 114-5 CRPA vorgesehene Verfahren auf diese Anträge nicht anwendbar“. Das Argument, dass das Besondere dem Allgemeinen vorgeht, ist zwar im Grundsatz zutreffend. Aber man hätte davon ausgehen können, dass gerade bei Lücken im speziellen Teil das allgemeine Recht gilt. Denn in diesem Fall scheint weniger eine vorrangige Spezialregel zu existieren als vielmehr ihre Abwesenheit, was eine andere Argumentationsweise verlangt. So werden die Verfahrensrechte, die den Antragstellern im Rahmen des Ausländerrechts zugestanden werden, durch den Richter zugunsten der Verwaltung geschmälert.
Letztendlich stellt sich das Ausländerrecht in Frankreich als dysfunktional dar, dessen mehrfach angekündigte Vereinfachung ein Hirngespinst bleibt.59 Abgesehen von der politischen Instrumentalisierung, die das Ausländerrecht erfährt, gibt es aus rechtlicher Sicht mindestens zwei Paradoxien.
Erstens liegt die Vollziehungsquote von OQTF a priori bei maximal 15%.60 Die Unmöglichkeit der tatsächlichen Durchsetzung dieser Entscheidungen trägt dazu bei, das Vertrauen in die Verwaltung und in die Wirksamkeit der Umsetzung der angeordneten Maßnahmen zu untergraben. Diese Unmöglichkeit stellt in einer Zeit, in der das Misstrauen gegenüber den Institutionen in der Gesellschaft zunimmt, ein nicht zu vernachlässigendes Risiko dar und macht die Forderungen nach einer verstärkten Ausstellung neuer Ausreiseverpflichtungen umso aussichtsloser. Die lediglich „platonische“ Art der Durchsetzung kann schließlich die Beamten, die solche Entscheidungen treffen, die Richter, die sie kontrollieren, und die Vollzugsbeamten, die gegebenenfalls für die Vollziehung zuständig sind, entmutigen.
Zweitens wird das Ausländerrecht, da es zum besonderen Verwaltungspolizeirecht gehört, als Prävention und als Schutz des Staates vor Ausländern verstanden. Die Vollziehung einer OQTF hängt jedoch – auf den ersten Blick kontraintuitiv, aber leicht erklärbar – von der Diplomatie und dem guten Willen des Staates ab, in den der Ausländer zurückgeführt werden soll. China, aber auch Algerien und andere Staaten weigern sich derzeit, konsularische Passierscheine auszustellen, die für die Rückkehr des Ausländers in das Zielland unerlässlich sind. Somit ist Frankreich in der Realität vom guten Willen anderer Staaten abhängig, weit entfernt von jeglicher Doktrin des Protektionismus.
- Für einen Überblick über die deutsche Situation aus französischer Sicht, s. C. Boutelet, L’ Allemagne amorce un virage sur l’immigration, Le Monde, 08.11.2023. Für Frankreich, s. die Debatten rund um die Diskussion des sogenannten „Einwanderungsgesetzes“ und den Inhalt des Gesetzes Nr. 2024-42 vom 26. Januar 2024 zur Steuerung der Einwanderung und Verbesserung der Integration (loi pour contrôler l’immigration, améliorer l’intégration); für einen Kommentar zu verschiedenen Aspekten des Gesetzes: J. Lepoutre, Intégration et régularisation des étrangers. Durcissement réel et progrès incertains, AJDA, 2024, 658 ; D. Turpin, La loi n° 2024-42 du 26 janvier 2024 pour contrôler (beaucoup) l’immigration, améliorer (un peu) l’intégration, RFDA, 2024, 311. [↩]
- Für einen historischen Ansatz zur Einwanderung in Frankreich siehe unter den klassischen Referenzen: G. Noiriel, Le creuset français : histoire de l’immigration, XIXe-XXe siècle, Editions du Seuil, 1988, S. 448; ders., Immigration, antisémitisme et racisme en France (XIXe-XXe siècle). Discours publics, humiliations privées, Fayard, 2014, S. 720. [↩]
- Der Zugang zum Zahlenmaterial ist weder einfach noch eindeutig. Selbst wenn die Daten als zuverlässig gelten, weil sie aus offiziellen Quellen stammen, bleibt ihre Interpretation je nach Indikator schwierig. Vgl. jedoch: Direction générale des étrangers en France, L’essentiel de l’immigration. Chiffres clés, 26.01.2023: Zwischen 2019 und 2022 werden jährlich maximal 130.000 Asylanträge gestellt und 2021 etwas mehr als 50.000 Zulassungen verzeichnet. Afghanische Staatsangehörige stellen am häufigsten einen solchen Antrag. Ukrainer (für die eine Sonderregelung galt) erhielten zwar eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung (ca. 65.000), aber nur 702 erhielten 2022 internationalen Schutz (d. h. Asyl) in Frankreich. [↩]
- F. Héran, Le débat public en France sur l’immigration est sans rapport avec la réalité, Le Monde, 10.11.2022. [↩]
- Vgl. den Beitrag von N. Schaks in diesem Buch. [↩]
- Diese aktuelle Auffassung war in Frankreich nicht immer vorherrschend. Historisch gesehen ist ein Ausländer (étranger, dass etymologisch aus dem Latein „extraneus“ kommt) jemand, der im Dorf gegenüber oder in der Nachbarregion wohnt. Bis in die 1830er Jahre gab es sogar Beamte, die nicht die französische Staatsangehörigkeit besaßen. Nach und nach, mit dem Aufbau des Nationalstaats, wird der Ausländer zu demjenigen, der nicht die Staatsangehörigkeit des Landes besitzt, in dem er sich aufhält. [↩]
- S. das Gesetz Nr. 2024-42 vom 26 Januar 2024 zur Steuerung der Einwanderung und Verbesserung der Integration. Ein Teil des Gesetzes besteht darin, die Arbeit in den sogenannten „angespannten“ Berufen zu erleichtern. [↩]
- S. unter anderem, L. Derepas, L’ordre public et les migrations, dossier L’ordre public, in : Archives de philosophie du droit, 2015 (tome 58), S. 47-57. [↩]
- Vgl. das Gesetz Nr. 2024-42 vom 26. Januar 2024 zur Steuerung der Einwanderung und Verbesserung der Integration, das die Möglichkeiten zur Ausweisung von Ausländern verschärft, die eine „ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Ordnung“ (gemäß der Überschrift von Titel III des Gesetzes, Art. 35 ff. ) darstellen infolge einer strafrechtlichen Verurteilung wegen Verbrechen oder Vergehen, die mit mindestens fünf Jahren Gefängnis (bzw. drei Jahren bei Rückfälligkeit) geahndet werden; zu diesem Thema, s. E. Aubin-Kanezuka, Les dispositions relatives à l’éloignement des étrangers „délinquants“, AJDA, 2024, 664. [↩]
- Die staatliche Gesundheitsfürsorge ist ein System, dass sich illegal aufhaltenden Ausländern Zugang zu medizinischer Versorgung gewährt (außer in Mayotte). Ihre Abschaffung wurde im Rahmen des Einwanderungsgesetzes 2023 diskutiert, während der parlamentarischen Beratungen im Senat beschlossen und bei der Prüfung des Gesetzes durch den Rechtsausschuss der Nationalversammlung wieder verworfen. Ihre Zukunft war offen, als ein von der Premierministerin in Auftrag gegebener und der Regierung vorgelegter Bericht ihren „gesundheitlichen Nutzen“ bestätigte (s. C. Evin/P. Stefanini, Rapport sur l’aide médicale de l’Etat, Dezember 2023). Nach der derzeitigen Rechtslage bleibt die staatliche medizinische Hilfe unverändert. [↩]
- Selbst wenn ein Ausländer die französische Staatsbürgerschaft erhalten hat, ist diese nicht ein für alle Mal erworben, da es ein Verfahren zur Aberkennung der Staatsbürgerschaft gibt, das insbesondere dann zur Anwendung kommt, wenn ein Vergehen oder Verbrechen begangen wurde, das einen Angriff auf die grundlegenden Interessen der Nation oder einen terroristischen Akt darstellt. [↩]
- V. Tchen, Le droit des étrangers d’« hier à demain » : un jour sans fin ?, Dr. adm., Nr. 10, Okt. 2023, 17. [↩]
- V. Tchen (Fn. 12). [↩]
- V. Tchen (Fn.12), § 5 ff. [↩]
- Vgl. das Gesetz Nr. 2024-42 vom 26. Januar 2024 zur Steuerung der Einwanderung und Verbesserung der Integration. Abgesehen von den heftigen Grundsatzdiskussionen, die es ausgelöst hat, weist dieses Gesetz auf rein rechtlicher Ebene die Besonderheit auf, dass es mit Bestimmungen verabschiedet wurde, von denen der Präsident der Republik und die Regierung wussten, dass sie nicht verfassungskonform waren (und dies auch öffentlich bekannt gaben). Dem Conseil constitutionnel wurde der Auftrag erteilt, die verfassungswidrigen Bestimmungen zu überprüfen und zu streichen (s. Entscheidung CC, Nr. 2023-863 DC vom 25. Januar 2024; für einen Kommentar: J. Bonnet/P.-Y. Gahdoun, L’art de l’esquive, AJDA, 2024, 650), woraufhin der Präsident dieser Institution heftig reagierte (s. L. Fabius, Cérémonie de vœux du Président de la République au Conseil constitutionnel, 8.01.2024, online verfügbar auf der Website des Verfassungsrats). [↩]
- Vgl. bereits den öffentlichen Bericht des Conseil d’État von 1991, De la sécurité juridique („Quand le droit bavarde, le citoyen ne prête lui plus qu’une oreille distraite“), der in seinem öffentlichen Bericht von 2006, Sécurité juridique et complexité du droit, wiederholt wurde. [↩]
- CC, Nr. 99‑421 DC du 16/12/1999, Loi portant habilitation du Gouvernement à procéder, par ordonnances, à l’adoption de la partie législative de certains codes, § 13. [↩]
- Die ständige Weiterentwicklung der Materie lässt die Lehrbücher rasch veralten. Vgl. jedoch auf akademischer Seite das Standardwerk: V. Tchen, Droit des étrangers, LexisNexis, 2024, 3. Aufl., S. 1720 (und auf sein Werk wird jeder verwiesen, der eine detaillierte und sehr umfassende Darstellung des Themas wünscht); auch, für einen offen engagierten Ansatz: K. Parrot, Carte blanche. L’Etat contre les étrangers, 2009, S. 328. [↩]
- Die GISTI (Groupe d’information et de soutien des immigrés – Informations- und Unterstützungsgruppe für Immigranten) trägt nicht nur zum Schutz von Einwanderern bei, indem sie häufig vor Gericht zieht (s. Sous l’égide du GISTI, Défendre la cause des étrangers en justice, Dalloz, 2009, 346 S.) und so das Ausländerrecht weiterentwickelt, sondern die eingereichten Klagen tragen auch zur Entwicklung des allgemeinen Verwaltungsrechts bei. Als Beweis dafür zählen die Grands arrêts de la jurisprudence administrative derzeit drei GISTI-Urteile unter den 178 Urteilen, die als wesentlich für das Verwaltungsrecht angesehen werden (s. M. Long/P. Weil/G. Braibant/P. Delvolvé/B. Genevois, Les grands arrêts de la jurisprudence administrative, 2023, 24. Aufl., 1250 S.). [↩]
- Für eine soziologische Beleuchtung: A. Spire, Accueillir ou reconduire. Enquête sur les guichets de l’immigration, Raisons d’agir, 2008, S. 124. Die Untersuchung bezieht sich in diesem Fall auf die Schalter der Präfektur, der Arbeitsdirektion, der Botschaften und Konsulate im Ausland. Untersucht werden insbesondere die „Überzeugungen“ und Arbeitsbedingungen der Beamten sowie die Art und Weise, wie das Prinzip „Regieren nach Zahlen“ umgesetzt wird, und ihre Auswirkungen. [↩]
- Für ein Standardwerk zu diesem Thema: T. Fleury-Graff/A. Marie, Droit de l’asile, 2. Aufl., 2021, S. 403. [↩]
- Anders als in Deutschland wurde in Frankreich eine spezielle Gerichtsbarkeit eingerichtet, die Nationale Asylrechtskommission (Commission nationale du droit d’asile – CNDA). Sie entscheidet im Berufungsverfahren gegen die Entscheidungen des französischen Amtes für den Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen (Office français de protection des réfugiés et des apatrides – OFPRA), das weiterhin ein Verwaltungsorgan ist, und ihre Entscheidungen fallen im Kassationsverfahren in die Zuständigkeit des Conseil d’État. [↩]
- Dies gilt nicht für Kinder, die in Frankreich geboren wurden und die französische Staatsangehörigkeit nicht mit der Geburt erworben haben und auch nicht für EU-Bürger. [↩]
- Auf die Familienzusammenführung, die einer anderen Regelung unterliegen, kann hier nicht näher eingegangen werden. [↩]
- Der Vorbehalt der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gewinnt an Bedeutung und vervielfältigt sich innerhalb der verschiedenen auf Ausländer anwendbaren Regelungen als Grund, mit dem die Verweigerung der Aufnahme des Ausländers oder sogar seine Ausweisung aus dem Hoheitsgebiet des Landes gerechtfertigt werden kann. [↩]
- Vgl. Gesetz Nr. 2006-911 vom 24. Juli 2006 über Einwanderung und Integration, Art. 5. Der ursprünglich als „Aufnahme- und Integrationsvertrag“ bezeichnete Vertrag wurde durch ein Gesetz aus dem Jahr 2016 in „Vertrag über republikanische Integration“ umbenannt (Gesetz Nr. 2016-274 vom 7. März 2016 über das Recht der Ausländer in Frankreich, Art. 66). [↩]
- Zu den Ergebnissen einer Feldforschung, s. M. Chambon, Les malfaçons du contrat d’accueil et d’intégration, Plein droit, 2006/3 (Nr. 70), S. 28-31. [↩]
- Im Falle einer Klage gegen diesen Akt kann das Verwaltungsgericht nur eine eingeschränkte Kontrolle ausüben. Wird die Entscheidung des Präfekten für nichtig erklärt, kann der Präfekten darüber hinaus angewiesen werden, innerhalb einer bestimmten Frist eine neue Entscheidung zu treffen. Er kann nicht angewiesen werden, den Titel zu erteilen, außer in Fällen einer gebundenen Entscheidung. [↩]
- Die Höhe der Gebühr wird für allgemeine Fälle auf 200 Euro festgelegt (s. Art. L436-1 CESEDA). [↩]
- Vgl. Unter anderem: CE, 10.06.2020, Nr. 435594; CE, 21.04.2021, Nr. 448178 (mit Präzisierungen zu den Beweismodalitäten); siehe auch den Informationsbericht des Senats Nr. 626, Services de l’État et immigration: retrouver sens et efficacité, 10. Mai 2022 sowie (bereits) das von der CIMADE erstellte Dokument, A guichets fermés. Demandes de titres de séjour: les personnes étrangères mises à distance des préfectures, 2016 (online verfügbar). [↩]
- Vgl. Anhang 9 des CESEDA. [↩]
- Décret Nr. 2021-313 vom 24. März 2021 über die Einrichtung eines Teledienstes für die Einreichung von Anträgen auf Erteilung von Aufenthaltstiteln (teilweise aufgehoben aufgrund der untengenannten Entscheidung des Conseil d’État vom 3. Juni 2022). [↩]
- CE, 03.06.2022, Nr. 452798. Das Gericht verwies zur Begründung seiner Entscheidung auf „die Merkmale des betroffenen Personenkreises, die Vielfalt und Komplexität der Situationen der Antragsteller und die Folgen, die Registrierung eines Antrags für die Situation eines Ausländers hat, insbesondere für sein Recht, sich in Frankreich aufzuhalten und in bestimmten Fällen dort zu arbeiten“. [↩]
- D. Lochak, Faire bouger les frontières de la citoyenneté: un combat voué à l’échec? retour sur le droit de vote des résidents étrangers en France, Les défis de la République, 2017, S. 57-86 und für einen anderen Blickwinkel: O. Beaud, Les étrangers exclus du droit de vote. Une telle exclusion est-elle nécessairement anti-démocratique?, in : Vies politiques ; mélanges en l’honneur de Hugues Portelli, 2018, S. 223-247. [↩]
- Vgl. unter den mit dem Aufenthalt verbundenen Rechten die Bestimmungen des CESEDA über die „Ausübung einer beruflichen Tätigkeit“ (Art. L414-10 ff.). [↩]
- Bei dieser Gelegenheit muss der Arbeitgeber gemäß Artikel L. 436-10 des CESEDA eine Gebühr entrichten. [↩]
- Vgl. den Bericht des Défenseur des droits, Les mineurs non accompagnés au regard du droit, Februar 2022 (online verfügbar), in dem eine alarmierende Bilanz gezogen und Empfehlungen ausgesprochen werden. [↩]
- Für ein aktuelles Beispiel: L’Ain va suspendre quelques mois la prise en charge des mineurs isolés étrangers, Le Monde mit AFP, 30.11.2023. [↩]
- CE, 3.02.2021, Nr. 448721: „Diese Entfernungsmaßnahmen sollen die materielle Ausführung ihrer Aufgabe durch die Ordnungskräfte erleichtern, die Achtung der Würde gewährleisten, die den evakuierten Personen zusteht, und Beeinträchtigungen Dritter verhindern, die durch solche Operationen entstehen könnten“. [↩]
- M. Canedo-Paris, La dignité humaine en tant que composante de l’ordre public : l’inattendu retour en droit administratif français d’un concept controversé, RFDA, 2008, 979. [↩]
- In Frankreich nehmen die « Regionalen operativen Überwachungs- und Rettungszentren » (CROSS – Centres régionaux opérationnels de surveillance et de sauvetage) diese Aufgabe wahr. [↩]
- Während früher ein grobes Fehlverhalten (faute lourde) gefordert wurde, um den Staat in solchen Fällen haftbar zu machen, ist seit 1998 nur noch ein einfaches Fehlverhalten (faute simple) erforderlich (CE, 13. 03.1998, Nr. 89370). Für eine Analyse dieses potenziellen zukünftigen Haftungsfalls siehe H. Belrhali, Secours en mer des migrants: le rappel de l’État à ses responsabilités?, Le Club des juristes, 23.12.2022 und der Autor betont, dass das Fehlverhalten auch im Hinblick auf die verfügbaren Mittel bewertet wird – von denen bekannt ist, dass sie gering und unzureichend sind. [↩]
- CE, 23.10.2020, Nr. 429383. [↩]
- CAA Bordeaux, 29.12.2021, Nr. 20BX03521. [↩]
- Défenseur des droits, Rapport annuel d’activité 2022, 17. April 2023, S. 40: mit einer Warnung „vor der Verschlechterung der Grundrechte von ausländischen Personen“. [↩]
- Vgl. insbesondere Le droit des étrangers en quarantaine, 30e colloque de droit des étrangers, organisé par le Syndicat des avocats de France, 26 septembre 2020; s. auch V. Tchen (Fn. 18), S. 160, der von „einem Rechtsstreit über Ausnahmeregelungen, die durch die vermeintlichen Erfordernisse der Dringlichkeit und diskreter durch die Notwendigkeiten der Anzahl der zu entscheidenden Beschwerden gerechtfertigt werden“ spricht. [↩]
- Dies ist einer der seltenen Fälle einer den Ausländer begünstigenden Regelung, obwohl in erster Linie praktische Erwägungen zugunsten der Verwaltung (sie muss den Ausländer, dessen OQTF vom Verwaltungsgericht aufgehoben wurde, nicht nach Frankreich zurückkehren lassen) und der Verwaltungsgerichte (die Einreichung einer einstweiligen Verfügung zusätzlich zu einer Klage in der Hauptsache wird vermieden) ausschlaggebend sein dürften. [↩]
- Es sei darauf hingewiesen, dass der Antrag auf Prozesskostenhilfe die Frist für die Einlegung eines Rechtsbehelfs hemmt, nicht aber die Vollziehungsmaßnahme. [↩]
- Vgl. zuletzt das Dekret Nr. 2020-1717 vom 28. Dezember 2020 zur Anwendung des Gesetzes Nr. 91-647 vom 10. Juli 1991 über die Prozesskostenhilfe und über die Prozesskostenhilfe und die Hilfe für die Intervention des Rechtsanwalts in nichtgerichtlichen Verfahren. Während eine Klage in der Hauptsache vor dem Verwaltungsgericht mit einem Grundkoeffizienten (umgangssprachlich „UV“ für unité de valeur [„Werteinheit“]) von 20 belegt wird, gilt für „Klagen gegen Maßnahmen im Bereich des Ausländerrechts, mit Ausnahme von Entschädigungsklagen und einstweiligen Verfügungen“ ein Grundkoeffizient von 14. Um es ganz nüchtern auszudrücken: für eine Anfechtung einer OQTF wird 30 % weniger bezahlt als für eine Klage wegen Überschreitung der Befugnisse, die gegen jede andere Art von Entscheidung eingereicht wird. [↩]
- S. auch V. Tchen, (Fn.18), S. 1117. Er erwähnt „den Eindruck stereotyper Urteile (…), der mit der geringen Anzahl der vorgebrachten Klagegründe zusammenhängt“, zumal die Anwälte oft in Eile angerufen werden. (…) Und ergänzt: „Die Zunahme der Prozesse und die Bedeutung der Formulare (die das Verfahren kennzeichnen und es für die Verwaltung sicherer machen) führen zu einer dem Anschein nach mechanischen Überprüfung, die meistens zur Feststellung der Rechtmäßigkeit der gerügten Maßnahmen führt. In vielerlei Hinsicht verleiht diese unbefriedigende Situation dem Rechtsstreit über die Verpflichtung, das Hoheitsgebiet zu verlassen, die Züge eines Alibis, das dazu bestimmt ist, den Anforderungen des Rechts auf Rechtsbehelf zu genügen. [↩]
- Vgl. in diesem Zusammenhang die frei zugängliche Bereitstellung von Millionen von Gerichtsurteilen auf der Plattform „Justice pappers“, https://justice.pappers.fr/ (zuletzt abgerufen am 28.08.2024). [↩]
- S. B. Even, Les mutations du contentieux administratif des étrangers, in : Sous l’égide du GISTI, Défendre la cause des étrangers en justice, 2009, S. 330. [↩]
- Conseil d’État, Rapport public. Activité juridictionnelle et consultative des juridictions administratives en 2022, 2023, S. 36. [↩]
- Vgl. im allgemeinen Haushalt des Staates, Programm 165, Jährliche Leistungsprojekte, Anhang zum Haushaltsgesetzentwurf für 2023, Indikator 3.1 „Anzahl der erledigten Fälle pro Mitglied des Staatsrats, pro Richter der Verwaltungsgerichte und Berufungsgerichte oder pro Berichterstatter des Nationalen Asylrechtsgerichtshofs“. [↩]
- A. Supiot, La Gouvernance par les nombres. Cours au Collège de France (2012-2014), 2015, 512 S. [↩]
- Die Zielvorgabe für jeden Richter im Jahr 2023 beträgt 85 Fälle beim Conseil d’État, 135 bei den Berufungsgerichten, 280 bei den Verwaltungsgerichten und 265 beim Nationalen Asylgerichtshof (s. Allgemeiner Haushalt des Staates, Programm 165 [Fn. 54]). [↩]
- Vgl. die Feststellung des Rechnungshofs, Approches méthodologiques des coûts de la justice. Enquête sur la mesure de l’activité et l’allocation des moyens des juridictions judiciaires, Dezember 2018, S. 85 ff. [↩]
- CE, Avis, 10. Oktober 2023, Nr. 472831. [↩]
- S. auch C. Meurant, La simplification impossible du contentieux de l’éloignement, AJDA, 2024, 676. [↩]
- Bei der Anhörung im Senat stellte der Innenminister jedoch klar, dass „diese Debatte über die OQTF demokratisch sehr wichtig ist. Jeder kommentiert eine Vollzugsquote, die niemand kennt. Die Zahlen, die für diese Vollzugsquote verwendet werden, beruhen auf keiner statistischen Realität … und gab nach Erklärungen eine freiwillige Vollzugsquote der OQTF von weniger als 20 % an, die seiner Meinung nach jedoch auf rund 40 % steigen würde, wenn man die Vollziehung der erzwungenen OQTF hinzurechnet. Für 2021 gibt er jedoch an, dass 120.000 QTBF ausgesprochen und 16.000 Grenzabschiebungen durchgeführt wurden (was nach der Berechnung der Verfasserin eine durchschnittliche Quote von 13% ergibt), die er erhöht, indem er eine zeitliche Verzögerung bei der Vollziehung berücksichtigt (was umstritten sein kann). Vgl. das Protokoll der Anhörung von Gérald Darmanin, Innenminiester, vor dem Rechtsausschuss des Senats (über den Entwurf des Haushaltsgesetzes für 2023, Mission Immigration, Asyl und Integration), Stellungnahme Nr. 121 (2022-2023), Band II, eingereicht am 17.11.2022. [↩]
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