Dr. Jörgen Schulze-Krüdener ist Diplom-Pädagoge und tätig im Fach Erziehungswissenschaft in der Abteilung Sozialpädagogik an der Universität Trier. Bettina Diwersy war wissenschaftliche Mitarbeiterin im „EUR&QUA-Projekt eines Grenzen überschreitenden Raums zum internationalen Kinderschutz“ an der Universität Trier.
In diesem Beitrag setzen sich die beiden Autoren damit auseinander, inwiefern der Kinderschutz die Rechte von Kindern mit Behinderungen mitberücksichtigt. Hinterfragt wird dies mit Blick auf die Kinderrechtskonvention, die UN-Behindertenrechtskonvention, das Bundesteilhabegesetz, das SGB, neueste gesetzliche Entwicklungen im Kinderschutzgesetz sowie dem 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung. Der Beitrag untersucht zunächst die Umsetzung der Ziele der UN-Kinderrechte auf nationaler Ebene. Nach einer Analyse des aktuell bestehenden Kinder- und Jugendschutzsystems auf einer formalen sowie praktischen Ebene folgt die Auseinandersetzung mit der Frage, ob dieser Schutz Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen im gleichen Maße gewährt wird. Anschließend werden auf juristischer und sozialer Ebene bestehende Probleme in Deutschland aus unterschiedlichen Aspekten erörtert. Die damit zusammenhängende Komplexität der Ursachen wird anhand eines grenzüberschreitenden Falles in der Großregion „SaarLorLux+“ veranschaulicht. Die Autoren präsentieren schließlich Ansätze und mögliche Perspektiven zur Erreichung des von den internationalen Konventionen und den nationalen Gesetzen intendierten Zieles hinsichtlich des Kinderschutzes von Kindern- und Jugendlichen mit Behinderung.
Jörgen Schulze-Krüdener est titulaire d’un doctorat en sciences de l’éducation et travaille au sein du département de pédagogie sociale de l’Université de Trèves. Bettina Diwersy était collaboratrice scientifique dans le cadre du projet EUR&QUA, projet de recherche scientifique visant la mise en place d’un espace transfrontalier pour la protection internationale de l’enfance à l’Université de Trèves.
Dans cette contribution, les deux auteurs s’interrogent sur la prise en compte par les politiques de protection de l’enfance des droits des enfants en situation de handicap. Cette question est posée au regard de la Convention internationale des droits de l’enfant (CIDE), de la Convention des Nations unies sur les droits des personnes handicapées, de la loi fédérale sur la participation des personnes handicapées (Teilhabegesetz), du code social allemand (SGB), des derniers développements juridiques de la loi sur la protection de l’enfance et du 13e rapport du gouvernement fédéral sur l’enfance et la jeunesse. La contribution examine d’abord la mise en œuvre des objectifs fixés par la Convention internationale des Droits de l’enfant au niveau national. Après une analyse du système actuel de protection des enfants et des jeunes, tant sur le plan formel que pratique, la question se pose de savoir si cette protection est accordée dans la même mesure aux enfants et aux jeunes en situation de handicap. Dans un second temps, le focus est porté sur l’exemple allemand, lors d’une mise en perspective des difficultés juridiques et sociales rencontrées en matière de protection des enfants et jeunes. La complexité du traitement de ces parcours est illustrée par un cas transfrontalier relevant de la région « SaarLorLux+ ». Enfin, les auteurs terminent leur analyse par un regard porté vers l’avenir à l’occasion d’une présentation des approches et des perspectives possibles pour atteindre l’objectif visé par les conventions internationales et les lois nationales en matière de protection des enfants et des jeunes en situation de handicap.
I. KINDERSCHUTZ IN DER JUGEND- UND BEHINDERTENHILFE EIN BLINDER FLECK? – EINE EINLEITENDE PROBLEMSKIZZE
In den vergangenen Jahrzehnten hat der Begriff Kinderschutz in nationalen wie auch internationalen Bezügen einen massiven Bedeutungszuwachs innerhalb der Sozialen Arbeit erfahren. Besonders im Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe ist dieser zu einer omnipräsenten Bezugsgröße geworden, sowohl was die konkrete Bearbeitung von Einzelfällen betrifft als auch was die fallübergreifende Planung von Konzepten und die Schaffung präventiver Strukturen in der Kinder- und Jugendhilfe angeht. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen der nachfolgenden Generation – so der fachliche und politische Konsens – stellt eine der zentralsten gesellschaftlichen Aufgaben unserer Zeit dar. In Deutschland hat dieses gesellschaftspolitische Anliegen bislang seinen Höhepunkt in der Verabschiedung des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) und dem hierin eingelagerten Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) erreicht. Beide Gesetze stärken die staatliche Mitverantwortung für den Schutz von Kindern und Jugendlichen und untermauern die Bedeutung engerer, gezielterer Zusammenarbeit und Informationsweitergabe aller an Kinderschutz beteiligten Akteuren. Auch wenn das Jugendamt in Deutschland maßgeblich für die Umsetzung des staatlichen Wächteramts zuständig ist und rechtlich im SGB VIII festgeschrieben ist, stellt Kinderschutz ein multiprofessionelles Arbeitsfeld dar. Insbesondere die Analyse des Arbeitsbereiches der Frühen Hilfen verdeutlicht, dass neben Akteuren der Sozialen Arbeit auch Fachkräfte weiterer Berufsgruppen, insbesondere aus der Medizin (Ärzte, Geburtshelfer, Kinderkrankenpfleger u.a.) in Kinderschutzpraxen involviert sind. Spätestens seit der medialen Skandalisierung gescheiterter Kinderschutzfälle (vgl. Biesel et al. 2019) gibt es zahlreiche Bemühungen und Anstrengungen, die unterschiedlichen Akteure im Arbeitsfeld des Kinderschutzes zu vernetzen, die multi- und interprofessionelle Kooperation voranzutreiben und auf diese Weise mögliche Schutzlücken zu schließen. Es scheint, als rücken Diskurse und Professionen näher zusammen, als wären alle darum bemüht, ihre verschiedenen Perspektiven im Sinne eines effektiveren Schutzes zu bündeln und Kinder und Jugendliche im Sinne der UN-Kinderrechte als eigene Akteure ins Zentrum ihrer Anstrengungen zu rücken. Betrachtet man die hierzu vorliegenden empirischen Beiträge, zeichnet sich ab, dass diesem Anspruch in praktischer Umsetzungsperspektive in unterschiedlichem Umfange entsprochen wird: Mannigfaltige Bestrebungen hierzu liegen sowohl in rechtlicher als auch in konzeptueller Sicht vor (Turba 2020), fachlich werden diese aber nicht durchweg in Gänze hinreichend umgesetzt (Bühler-Niederberger et al. 2014). So lassen die Bemühungen allzu häufig all jene Kinder und Jugendliche außer Acht, die eine körperliche und/oder geistige Behinderung aufweisen und damit formal (derzeit noch; s.u.) der Eingliederungshilfe zugeordnet werden.
Vor diesem Hintergrund setzt sich der Beitrag kritisch-konstruktiv mit der formalrechtlichen Separation von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung auseinander und fragt nach deren praktischen Folgen für die Sicherstellung des Schutzauftrags für Kinder und Jugendliche mit besonderem Unterstützungsbedarfen, die in prägnanter Weise insbesondere in Grenzen überschreitenden Fallkonstellationen offenkundig werden. Ergänzt werden die theoretischen Überlegungen durch empirische Erkundungen im Bereich des Grenzen überschreitenden Schutzes von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der Behindertenhilfe in der Großregion „SaarLorLux+“ im Rahmen des Interreg-Projekts EUR&QUA (2017-2020, www. eurequa.eu). Deutlich wird, dass gerade auch in Grenzen überschreitenden Schutzkontexten die vorherrschenden Separierungsmuster von Kindern und Jugendlichen mit besonderen Unterstützungsbedarfen und damit in Verbindung stehenden Adressierungsprozessen im Zuge des Inklusionsgedankens obsolet werden und einem gemeinsamen Grenzen überschreitenden Schutzgedanken diametral entgegenstehen (können).
Zunächst werden die grundlegenden Zugänge zu Kinderschutz (Kapitel 2) und Behinderung von Kindern und Jugendlichen (Kapitel 3) in Deutschland und die hiermit verbundenen Implikationen dargestellt. Im Zusammenhang mit der Zuständigkeitsseparierung von Kinder- und Jugendhilfe einerseits und Eingliederungshilfe andererseits wird diskutiert, inwiefern (systematische) Schutzlücken für Kinder und Jugendliche mit besonderem Unterstützungsbedarf entstanden sind (Kapitel 4). Welche Folgewirkungen sich daraus für die Kinderschutzpraxis ergeben, wird anhand eines Grenzen überschreitenden Fallbeispiels illustriert (Kapitel 5). Vor diesem Hintergrund wird der aktuelle Stand der Debatte um die sog. „Große Lösung“ oder „Inklusive Lösung“ dargestellt und diskutiert, wie der Schutzauftrag einer für alle Kinder und Jugendlichen mit und ohne Behinderung zuständigen Kinder- und Jugendhilfe aussehen kann und welche wertvollen Impulse die Debatte auch für internationale Schutzbemühungen gibt (Kapitel 6). Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf die Zukunft eines Grenzen überschreitenden Schutzes für alle Kinder und Jugendlichen (Kapitel 7).
II. KINDERSCHUTZ IN DEUTSCHLAND – BESTANDSAUFNAHME UND ENTWICKLUNGEN
In Deutschland gibt es keine einheitliche, verbindliche Definition von Kinderschutz. Vielmehr handelt es sich um einen Sammelbegriff, mit dem sich verschiedene Disziplinen und Professionen befassen. Vor diesem Hintergrund weisen sowohl die Reichweite als auch Intensität von Aktivitäten, die als Kinderschutz deklariert werden, je nach theoretischem Zugang und praktischem Aufgabenbereich unterschiedliche normative und handlungspraktische Konnotationen auf. Im Horizont dessen wird Kinderschutz als soziales Konstrukt auch in Abhängigkeit von Verwendungszusammenhang und Verwendungsinteresse mit verschiedenen Inhalten, Zuständigkeiten und Handlungsmodalitäten in Verbindung gebracht (Biesel & Urban-Stahl 2018, S. 18). Diese Bedeutungsoffenheit beruht vornehmlich darauf, dass Kinderschutz mittlerweile ein multiprofessionelles Arbeitsfeld ist, in dem viele verschiedene Berufsgruppen arbeiten. Sie alle haben ihren je fachspezifischen Zugang zu Kinderschutz und verbinden unterschiedliche theoretische Inhalte und praktische Aufträge. Neben der Sozialen Arbeit sind (in Abhängigkeit von der jeweiligen Fallkonstellation) noch weitere Akteure etwa aus der Rechtswissenschaft, dem Sicherheitsapparat, der Psychologie und/oder der Medizin involviert. Ohne Staatsgrenzen zu überschreiten, zeigt sich bereits an dieser Stelle, dass bereits innerhalb Deutschlands unterschiedliche Vorstellungen darüber existieren, was Kinderschutz sein kann und wie dieser umzusetzen ist (Turba 2020, S. 138f.).
Trotz der Vielfalt an Bedeutungshorizonten können ein engeres und ein breiteres Begriffsverständnis voneinander unterschieden werden. In einem engeren Verständnis ist mit Kinderschutz eine fallbezogene Intervention bei einer unmittelbar bestehenden Gefährdungssituation für das körperliche und/oder geistige Wohl für Kinder oder Jugendliche gemeint. Hier konzentrieren sich Maßnahmen des Kinderschutzes vorrangig auf die Kinder und Jugendlichen selbst. Einem breiteren Verständnis folgend stellt Kinderschutz hingegen eine umfassende gesellschaftliche und sozialpolitische Querschnittsaufgabe dar. Hier geht es nicht mehr um gefährdungsbezogene Intervention im Einzelfall, sondern um die Schaffung von Lebensbedingungen, von denen begründet angenommen wird, dass sie sich positiv auf die Entwicklung von allen Kindern und Jugendlichen auswirken und mögliche zukünftige Gefährdungsmomente verhindern. Nach diesem Verständnis sind Maßnahmen nicht mehr nur an den Kindern und Jugendlichen selbst orientiert, sondern sie richten sich auch an deren Familien, ihr soziales Umfeld und ihren Sozialraum (Schone & Struck 2018, S. 767).
Über alle Berufs-, Organisations- und Landesgrenzen hinweg lässt sich konstatieren, dass es beim Kinderschutz darum geht, Kinder und Jugendliche zu schützen. Bei diesem Leitgedanken, wie er auch in den UN-Kinderrechten von zahlreichen Staaten weltweit ratifiziert wurde, scheint es sich allerdings nur auf den ersten Blick um ein geteiltes Unterfangen zu handeln. Wenn es darum geht, Kinder und Jugendliche zu schützen, stellt sich unweigerlich die Frage, in welchen Situationen sie des Schutzes bedürfen und auch, wer ihn in welcher Form leisten soll. Wenn vom „geflügelten Wort“ Kinderschutz die Rede ist, wird schnell klar, dass alle darunter zwar denselben Leitgedanken teilen, allerdings keinesfalls das Gleiche hierunter verstehen.
Fachliches und rechtliches Ziel aller Aktivitäten im Kinderschutz ist die Sicherung des Kindeswohls. Dies ist der zentrale Bezugspunkt, um den sämtliche fachliche und Ländergrenzen überschreitenden Auseinandersetzungen um Kinderschutz kreisen. Im Zentrum steht hierbei die Unterscheidung von förderlichen, dem Kindeswohl dienlichen Lebensumständen und umgekehrt nach Faktoren und Einflüssen, die diesem Wohl entgegenstehen (Zitelmann 2001, S. 59f.).
Die gesetzliche Basis von Kinderschutz in Deutschland stellt zunächst das Grundgesetz dar, das allen Menschen – und damit auch allen Kindern und Jugendlichen – die Sicherung ihrer Würde (Art. 1 GG) sowie das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 GG) zusichert. Konkretisiert werden schließlich das Elternrecht in Art. 6 Abs. 2 GG und das staatliche Wächteramt, durch das Eingriffe bei Verletzung des Elternrechts legitimiert werden. Eine Unterscheidung von Kindern mit und ohne Beeinträchtigung findet hier noch nicht statt. Das Grundgesetz sichert allen Kindern und Jugendlichen als eigenen Rechtssubjekten und Grundrechtsträgern denselben staatlichen Schutz vor Gefährdungen für ihr Wohl zu.
Als eigener Rechtsbegriff wird Kindeswohl im Jahr 1990 in das Bürgerliche Gesetzbuch eingeführt. Zu diesem Zeitpunkt war dieser noch Ausdruck paternalistischer Vorstellungen über gelingendes Aufwachsen, die auch das Züchtigungsrecht von Eltern miteinschließen. Individuelle Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen spielten hier kaum eine Rolle. Dies änderte sich erst im Zuge der sog. sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre. International rückte nun der Kindeswille als Ideal kindlicher Selbstbestimmung in den Fokus. Die bis dahin dominierende Vorstellung, das Wohl von Kindern und Jugendlichen könne allein anhand allgemeiner gesellschaftlicher Normen von außen bestimmt werden, wurde damit hinfällig. Damit wurde zugleich offenkundig, dass eine allgemeingültige positive Bestimmung dessen, was Kindeswohl ausmacht, nicht vorgenommen werden kann (Wapler 2017, S. 16ff.).
So wie die Vorstellungen von Kindeswohl kulturellen Einflüssen und zeitlichem Wandel unterliegen, verhält es sich auch mit dem Gegenpart, dem sozialen Konstrukt der Kindeswohlgefährdung. Im rechtlichen Sinne liegt sie vor, „wenn eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr festgestellt wird, dass bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist“ (BGH 2016, XII ZB 149/16). Im Horizont dessen kommt ein intervenierender öffentlicher Eingriff, auch gegen den Willen der Eltern, insofern erst dann in Betracht, wenn Erziehungsziele – ggf. auch nur eines von ihnen, etwa die Gesundheitsfürsorge – in weiten Teilen verfehlt werden, das Kind oder die/der Jugendliche mit ihrem/seinem eigenen Anspruch auf Pflege und Erziehung durch seine Eltern grob missachtet wird. Die Konzeption des staatlichen Wächteramts ist also intervenierend angelegt und nicht präventiv ausgelegt. Dennoch bilden sich in der Zuständigkeitsübertragung des Wächteramts auf die Kinder- und Jugendhilfe und ihrem rechtlich festgeschriebenen Aufgabenbereich im SGB VIII das Kontinuum der verschiedenen Zugänge zum sozialen Konstrukt des Kinderschutzes wieder: Diese reichen von präventiven, sozialraumorientierten und freiwilligen Angeboten bis hin zu kontrollierenden, lebensweltersetzenden Eingriffen bei Kindeswohlgefährdungen:
- 1 Abs. 1 SGB VIII sichert allen jungen Menschen das Recht „auf Förderung [ihrer] Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ zu. Die Kinder- und Jugendhilfe wird in § 1 Abs. 2 SGB VIII explizit als maßgeblicher Akteur zur Umsetzung dieses Rechts genannt, und zwar sowohl in intervenierender Hinsicht, wenn es darum geht, Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen (§ 1 Abs. 3 S. 3 SGB VIII) als auch in präventiver Hinsicht. In § 1 Abs. 3 S. 4 SGB VIII wird die Kinder- und Jugendhilfe dazu (mit)‑verpflichtet, „positive Lebensbedingungen für alle junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen.“
Aktuelle Kinderschutzpolitiken zeichnen sich gegenwärtig allerdings durch verstärkte Kontroll- und Schutzorientierungen aus (Gilbert, Parton & Skivenes 2011). Dies hängt auch damit zusammen, dass sich im Zuge der wandelnden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung ein verändertes öffentliches Interesse am Kind- und Elternsein entwickelt hat. Kinder und Jugendliche stellen in unserer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft Humankapital und ihr Schutz eine Invention in den Fortbestand der sozialen Ordnung dar (Bühler-Niederberger et al. 2014, S. 115). Die gegenwärtige deutsche Kinderwohlfahrtspolitik ist vor diesem Hintergrund geprägt durch eine verstärkte Kontrolle von Eltern (-sein) und einem zunehmenden Interesse am Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung. Und schließlich hat auch die mediale Skandalisierung vermeintlich gescheiterter Kinderschutzfälle, die Namen ‚Kevin’ oder ‚Lea-Sophie’ stehen hier stellvertretend für andere, eine (fach-) öffentliche Debatte um die Effektivität von Kinderschutz entfacht. Von besonderem Interesse sind seither organisationale Verfahren und Abläufe in konkreten Kinderschutzverläufen (u.a. Bode & Turba 2014), aber auch das konkrete Handeln von Fachkräften– hier insbesondere von Aspekten wie Eingriffsschwellen, multiprofessionelle Kooperation und Vernetzung (u.a. Franzheld 2017). Auch die Beteiligung der Adressaten in Kinderschutzverläufen rückt in den Fokus der Optimierungsbestrebungen und ist zumindest dem Anspruch nach essentielles Element in der Fallkonstruktion und -planung (u.a. Eßer et al. 2018).
Nicht zuletzt hat diese neue Aufmerksamkeit für Kinder (-schutz) auch gesetzliche Neuerungen angestoßen. 2005 tritt das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK) in Kraft. Es handelt es sich um ein Artikelgesetz, das Änderungen im SGB VIII vornimmt. Die wichtigste Änderung ist die Neuregelung des Schutzauftrags der Kinder- und Jugendhilfe bei Gefährdung des Kindeswohls (§§ 8a und 72a SGB VIII). Der sog. Kinderschutzparagraph § 8a des SGB VIII legt das genaue Vorgehen bei Kindeswohlgefährdungen fest und wann welche Institution eingeschaltet wird. Neben den Jugendämtern und Familiengerichten als direkte Adressaten des „staatlichen Wächteramts“ wird die Verantwortung für den öffentlichen Schutzauftrag gemäß § 8a Abs. 2 SGB VIII auch auf freie Träger übertragen, die wiederum über Vereinbarungen zwischen öffentlichen und freien Trägern sichergestellt werden soll (§ 8a Abs. 4 SGB VIII). Gleichwohl dieser Kinderschutzparagraph nicht im Sinne eines Meldeverfahrens konzipiert ist, regelt er dennoch ab „wann dritte Institutionen, Einrichtungen oder Dienste bei der Gefährdungseinschätzung und -abwendung hinzugezogen werden sollen“ (Meysen & Schindler 2014, S. 450). Auf diese Weise sollen Verdachtsabklärungen und Hilfen effektiver gestaltet werden. Ergänzt wird das KICK-Gesetz im Jahr 2008 durch das Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls und 2012 durch das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG), durch das der präventive und aktive Kinderschutz in Deutschland maßgeblich weiterentwickelt wird. Durch das BKiSchG wird der Schutzauftrag in § 8a SGB VIII konkretisiert sowie mit § 8b und § 79a SGB VIII zwei neue Schutzregelungen eingeführt. Gleichzeitig wird mit dem BKiSchG auch das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) verabschiedet, durch das verbindliche Rahmenbedingungen für Netzwerkstrukturen innerhalb des Sozial-, Erziehungs-, Bildungs- und Gesundheitswesen sichergestellt werden. Die Absicht dieser sozialinvestiven, eingriffs- und effizienzorientierten Organisation von Kinderschutz basiert dabei auf Vorstellungen von Standards kindlicher Entwicklung, die dem Helfersystem, vorrangig den Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe, als Indikator möglicher Kindeswohlgefährdungen dienen (Mierendorff & Ostner 2014, S. 205). Eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen fällt allerdings aus dieser Vorstellung geradliniger, durchschnittlich erwarteter, nachprüfbarer Entwicklung und damit auch standardisierbaren Schutzbestrebungen heraus: Es sind jene Kinder und Jugendliche mit einer körperlichen und/oder geistigen Beeinträchtigung.
III. KINDER UND JUGENDLICHE MIT BESONDEREM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF – PRAKTIKEN DER ADRESSIERUNG ALS RELATIONALER PROZESS
Die Beeinträchtigungen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung können ganz unterschiedlich sein. Die Trennlinien dieser Zuordnung verlaufen entlang körperlicher und/oder kognitiver Beeinträchtigungen. In gewisser Weise sind alle Menschen in der einen oder anderen Hinsicht zeitweise oder dauerhaft körperlich und/oder mental beeinträchtigt. Wo wird also die Grenze gezogen? Wie sind Menschen mit Behinderung von Menschen ohne Behinderung zu differenzieren? Wer entscheidet darüber? Wie wird innerhalb von machtvollen Normierungsprozessen Behinderung hergestellt? Kurzum: Was ist Behinderung? (Egen 2020).
Eine geistige Behinderung wird Personen zugeschrieben, die überdurchschnittliche Probleme bei der Bewältigung kognitiver Prozesse haben (Stöppler 2017, S. 16). Als vermeintlich objektive Grenze dient der Intelligenzquotient. Als geistig behindert werden Kinder und Jugendliche bei Unterschreitung eines IQs von 70 Punkten eingestuft (AGJ 2011, S. 1). Eine körperliche Behinderung liegt hingegen vor, wenn „eine Person […], die in Folge einer Schädigung des Stütz- und Bewegungssystems, einer anderen organischen Schädigung oder einer chronischen Krankheit so in ihren Verhaltensmöglichkeiten beeinträchtigt ist, dass die Selbstverwirklichung in sozialer Interaktion erschwert ist“ (Leyendecker 2005, 21). Bereits dieser knappe Blick in die Vielschichtigkeit des deutschen Behindertenbegriffs zeigt, dass es sich bei Behinderungen um ein breites Spektrum an Beeinträchtigungen handeln kann. Nicht selten liegen auch Mehrfachbehinderungen vor.
Das Gesagte verdeutlicht einerseits, dass es sich bei den Kindern und Jugendlichen mit Behinderung keineswegs um eine homogene Gruppe handelt. Vielmehr können die als Behinderungen attestierten besonderen Bedürfnisse unterschiedliche und vielfältige Ausprägungen haben. Andererseits verdeutlichen solcherart Definitionen, dass Behinderungen vom Individuum ausgedacht werden und dadurch den Charakter einer Eigenschaft erhalten. Soziale Konstruktionsprozesse von Behinderungen sowie Wechselwirkungen zwischen Menschen mit individuellen Dispositionen und ihrer Umwelt werden weitestgehend ausgeblendet. Es dominiert ein defizitorientierter Blick, der die Norm zum Maßstab nimmt und Abweichungen hiervon als wesentlichen Unterschied im Sinne eines persönlichen Nachteils wertet. Diese Sicht auf Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf war noch bis vor wenigen Jahrzehnten prägend und wesentlich durch das medizinische Bild von Behinderung als individuell belastende Beeinträchtigung bestimmt (Metzler 2011, S. 101). Solche Differenzierungen und Negativzuschreibungen haben nicht nur großen Einfluss darauf, wie Menschen mit Behinderung von ihrer Umwelt wahrgenommen werden, sondern auch darauf, wie sich diese Menschen selbst wahrnehmen (Haupt 2011). Insofern spielt die gesellschaftliche Sicht auf Bewertung von und der Umgang mit Personen mit besonderen Unterstützungsbedarfen eine große Rolle. Grundsätzlich stellt sich daher die Frage, in welchen Kontexten und zu welchen Zwecken die Differenzierung „behindert vs. nicht behindert“ vorgenommen wird.
Diese Differenzierung steht unmittelbar in Zusammenhang mit dem Ideal menschlicher Autonomie und Selbstbestimmung, die vor allem auf aufklärerische Ideen beruht. Im Zusammenspiel mit dem ökonomischen Wandel zur Industriegesellschaft findet eine kollektive Strukturierung von Lebenszeit und eine Homogenisierung biographischen Handelns westlicher Gesellschaften statt, die gesellschaftsstrukturelle Umsetzung in der Normalbiographie finden (Kohli 2003, S. 526). Beeinträchtigungen werden vor dem Hintergrund dieser Erwerbsarbeitszentrierung als individuelles Defizit und funktionaler Mangel in Bezug auf Produktivität und Erwerbsarbeitsfähigkeit verstanden. Gleichzeit basiert das bundesdeutsche System der sozialen Sicherung fortan auf selbstständiger Erwerbsarbeit. Menschen, die aufgrund körperlicher und/oder mentaler Leiden nicht erwerbstätig sein können, werden nicht nur normativ, sondern auch rechtlich verbesondert (Bösl 2009). Vornehmlicher Zweck der Differenzierung „behindert/nicht behindert“ ist aus dieser Perspektive die Fähigkeit, sich selbst mittels Erwerbsarbeit zu versorgen. Auf normativ-ideeller Ebene kann das autonome Subjekt ein selbstbestimmtes Leben führen. Ein dauerhaftes, im Falle von Behinderung möglicherweise lebenslanges Angewiesensein auf andere steht diesem Ideal von Selbstbestimmung und Unabhängigkeit entgegen und ist daher negativ besetzt (Nagl-Docekal, 2004, S. 1045ff.).
Die lange Zeit vorherrschende medizinisch-defizitorientierte und separierende Differenzierung weicht heute allerdings zunehmend einem sozialkonstruktivistischen und relationalen Verständnis von Behinderung, bei dem Behinderung „nicht länger als individuelles Merkmal […], sondern als soziale Konstruktion in gesellschaftlichen Prozessen der Inklusion und Exklusion“ verstanden wird (Wansing 2007, S. 291).
Um das Zusammenspiel zwischen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und den gesellschaftsstrukturellen Bedingungen von Teilhabemöglichkeiten abzubilden, wird auf internationaler Ebene von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1980 mit der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) ein Klassifikationssystem entwickelt, bei dem die medizinische Sichtweise auf Behinderungen mit der sozialen Konstruktion von Behinderungen verbunden wird. Dieses bio-psycho-soziale Modell beschreibt Behinderungen als Folge eines komplexen Wechselprozesses zwischen Menschen mit bestimmten Körperfunktionen und Körperstrukturen einerseits und Umweltfaktoren sowie personenbezogenen Faktoren, den Kontextfaktoren, andererseits. Gleichzeitig wird damit auch darauf hingewiesen, dass Behinderungen als Funktionsbeeinträchtigung (disability) sowohl individuelle Auswirkungen als auch soziale Beeinträchtigungen (handicaps) zur Folge haben. Diesem Verständnis folgend sind Behinderungen sowohl das Resultat individueller Aktivitätsbeeinträchtigungen als auch Umweltbarrieren im Sinne gesellschaftlicher Partizipationsbeschränkungen (DIMDI 2005, S. 23ff.).
Das deutsche Sozialleistungssystem unterscheidet vor diesem Hintergrund (bzw. dessen ungeachtet) bis heute zwischen Leistungsansprüchen von Menschen mit und ohne Behinderung. Der Behinderungsbegriff ist in rechtlicher Sicht von immens hoher Bedeutung, denn er sichert den Zugang zu Leistungen und Ansprüchen. In Anlehnung an die ICD-Klassifikation wird Behinderung im SGB IX wie folgt definiert: „Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist“ (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Mit dieser Formulierung rückt die Teilhabe von Menschen mit Behinderung in den verschiedenen Lebensbereichen in den Vordergrund. Leistungen zur Eingliederung beruhen auf dem Verständnis eingeschränkter Teilhabe von Menschen mit Behinderung in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen.
Wenn es um die Gewährung von Sozialleistungen für Kinder und Jugendliche mit diagnostizierter körperlicher und/oder geistiger Behinderung geht, ist daher entscheidend, welcher Bedarf festgestellt wird. Wird ein erzieherischer Bedarf festgestellt, der nicht gedeckt ist, dessen Befriedigung aber zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen erforderlich ist, ist die Kinder- und Jugendhilfe zuständig. Ebenfalls in den Zuständigkeitsbereich der Kinder- und Jugendhilfe fallen gemäß § 35a SGB VIII Kinder und Jugendliche mit vorliegender oder drohender seelischer Behinderung. Wird hingegen ein behinderungsspezifischer Bedarf, auf der Grundlage einer diagnostizierten körperlichen und/oder geistigen Behinderung festgestellt, fällt dies in den Zuständigkeitsbereich der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX. Sie setzt behinderungsspezifische Bedarfe voraus, deren Deckung erforderlich ist, um die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sicherzustellen. Ausschlaggebend für die Zuordnung zum SGB VIII bzw. zum SGB IX ist allein die Art der festgestellten Behinderung. Sofern Leistungen nach dem SGB VIII und dem SGB IX geeignet und erforderlich sind, sind ggf. Einzelvereinbarungen zwischen dem zuständigen Jugend- oder Sozialhilfeträger zu schließen (sofern keine allgemeinen Vereinbarungen bestehen).
Die Zuständigkeitsregelung des § 35a SGB VIII im Zuge der ersten Novellierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ist Ausdruck der sich wandelnden Sicht auf Behinderungen. Zuvor fiel der gesamte Bereich der Behinderung von Kindern und Jugendliche in den Zuständigkeitsbereich der Sozialhilfe. Die bislang dominierende, pathologisierende und medizinische Sicht auf Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigen wird mit der Zuständigkeitsübertragung auf die Kinder- und Jugendhilfe um einen pädagogischen Zugang ergänzt. Gleichzeitig führt das Konstrukt der seelischen Behinderungen auch die Widersprüchlichkeit der Zuständigkeitsseparierung von Sozialhilfe und Kinder- und Jugendhilfe vor Augen (Wiesner 1995, S. 341). Von einer seelischen Behinderung bei Kindern und Jugendlichen nach § 35a SGB VIII wird ausgegangen, wenn „(1) ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und (2) daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.“ Beim Auftreten seelischer Behinderungen spielen externe psychosoziale und umweltbedingte Faktoren eine große Rolle. Dies sind v.a. negative soziale Einflüsse und Erfahrungen, wie beispielsweise hohe psychische Belastungen, Trennungs- oder Verlusterlebnisse oder Gewalterfahrungen. Wirken sich solche Erlebnisse in Verbindung mit der eigenen Konstitution dauerhaft negativ auf das psychische Befinden von Kindern und Jugendlichen aus, droht eine seelische Behinderung. Dieser Sachverhalt verweist darauf, dass bei dieser Form der Beeinträchtigung das soziale Umfeld (mit)entscheidend ist und es sich daher nicht nur einzig um ein medizinisches Problem, sondern zugleich um ein pädagogisches handelt.
In direkter Folge dieser Verschränkung kommt es an der Schnittstelle von Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe wiederholt zu Abgrenzungsproblemen – zumal mitunter auch Mehrfachbehinderungen vorliegen und die Diagnose einer seelischen Behinderung äußerst voraussetzungsvoll ist (Döpfner & Petermann 2012). Die Zuordnung zur Sozial- bzw. Kinder- und Jugendhilfe erfolgt ausgehend von § 10 Abs. 4 SGB VIII. Bei Kindern und Jugendlichen mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung wird die Eingliederungshilfe nach SGB IX als vorrangig angesehen. Das alltägliche Erziehungsgeschehen ist im behindertenspezifischen Bedarf eingeschlossen. Ausschlaggebend für die Zuordnung zum SGB VIII bzw. zum SGB IX ist allein die Art der festgestellten Behinderung.
In diesem Kontext ist jedoch zu konstatieren, dass – im Gegensatz zum vorliegenden aussagekräftigen Datenmaterial zu Kindern und Jugendlichen ohne Behinderung aus dem Erziehungs- und Bildungssystem (vgl. Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik 2019) – sowohl über die Anzahl der Kinder und Jugendliche, die über behinderungsspezifische Bedarfe verfügen als auch über die diesem Personenkreis gewährten Eingliederungshilfen keine gesicherten Zahlen vorliegen. Lediglich im Bereich der sog. Schwerbehinderung liegen Zahlen vor. Die Gruppe offiziell als schwerbehindert eingestufter Kindern und Jugendlichen liegt im Vergleich zu der Gesamtpopulation ihrer Altersgruppen auf einem niedrigen Niveau. Bei den 0 bis 18-Jährigen macht sie etwa ein Prozent aus (Destatis 2019a, S. 135). Allerdings ist die Datenlage sehr unübersichtlich. Eingliederungshilfen nach § 35a SGB VIII beziehen im Jahr 2018 37.210 Kinder und Jugendliche (Destatis 2019a, S. 61). Eingliederungshilfen nach dem 5. bis 9. Kapitel SGB XII beziehen 2018 fast 118.600 Kinder und Jugendliche außerhalb von Einrichtungen und knapp 76.500 in Einrichtungen (wobei diese ab dem 1. Januar 2020 weggefallen sind; vgl. Destatis 2020a). Hierbei handelt es sich um Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und Betreuungsleistungen. Ihr jeweiliger prozentualer Anteil wird allerdings bundesweit nicht systematisch erfasst. Allein die Schwerbehindertenquote wird systematisch statisch erfasst. 2017 gelten in Deutschland circa 182.200 Kinder und Jugendliche als schwerbehindert (Destatis 2019b, S. 135).
Aufgrund des weitgehenden Fehlens gesicherter Daten in Kombination mit der aufgezeigten Schnittstellenproblematik von Sozialhilfe und Kinder-/Jugendhilfe ist es derzeit nicht möglich, präzise Aussagen über die Gefährdungslage von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung vorzunehmen. Aber die prozentuale Erfassung der Gesamtzahl wäre ein erster unverzichtbarer Baustein, um das empirische Ausmaß nachweisbarer Gefährdungen bestimmen zu können.
IV. SCHUTZ VON KINDERN UND JUGENDLICHEN MIT BESONDEREM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF – EINE SCHUTZLÜCKE?
Bei Fragen des Kinderschutzes im Kontext konkurrierender Diskurse und Professionen wird oftmals ausgeblendet, dass Kinder und Jugendliche mit körperlicher und/oder geistiger Beeinträchtigung eine in besonderem Maße schutzbedürftige Gruppe darstellen. Im Gegensatz zu Gleichaltrigen ohne Beeinträchtigungen sind sie bei der Bewältigung ihres Alltags in vielfältigen Bezügen von der Hilfe und Unterstützung anderer abhängig. In einigen Fällen sind dies die Eltern, Geschwister oder andere Verwandte. In anderen Fällen erfolgt die Unterstützung in verberuflichter Form über Leistungen der Eingliederungshilfe gemäß des Neunten Sozialgesetzbuches SGB IX. Unabhängig davon, in welchen Kontexten die Unterstützungsleistungen stattfinden, zeichnen sie sich durch ein strukturelles, asymmetrisches Abhängigkeitsverhältnis aus. Kinder und Jugendliche mit Behinderung sind in besonderem Maße auf die Fürsorge und Pflege ihrer Bezugspersonen angewiesen. Diese strukturelle Abhängigkeit macht sie zu einer besonders vulnerablen Gruppe (Lehmeyer 2018, S. 75f.). Verschärfend rückt der Schutzaspekt von Kindern und Jugendlichen in der Praxis häufiger in den Hintergrund, denn anders als bei der Gewährung sozialer Hilfen durch Träger der Kinder- und Jugendhilfe steht bei der Gewährung von Eingliederungshilfen kein erzieherischer Bedarf, sondern ein behinderungsspezifischer Bedarf im Vordergrund (Ebner 2018, S. 13). Ungeachtet dessen obliegt es den Trägern von stationären und ambulanten Hilfen, die zum Zuständigkeitsbereich eines Sozialhilfeträgers oder anderer Rehabilitationsträger gehören, eine besondere Verantwortung für Kinder und Jugendliche mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung zu übernehmen, die ihre Angebote in Anspruch nehmen. Hierzu gehört auch, sie vor Gefährdungen für ihr Wohl zu schützen und im Falle von Kindeswohlgefährdungen tätig zu werden. Untermauert wurde dieser Schutzauftrag durch das Bundeskinderschutzgesetz. Durch Art. 3 BKiSchG wird § 21 des Neunten Sozialgesetzbuchs SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung) in Teilen geändert. Ergänzt wird in Absatz 7 das Recht von Fachkräften im Bereich der Eingliederungs- und Rehabilitationshilfe „das Angebot, Beratung durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung in Anspruch zu nehmen“ (§ 21 Abs. 1 S. 7 SGB IX). Dieser Passus stellt insofern eine Besonderheit dar, da dies der einzige Arbeitsbereich ist, in dem Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung arbeiten können und in dessen rechtlich relevantem Sozialgesetzbuch ein eigenes Beratungsrecht festgeschrieben ist. In anderen Bereichen, in denen Fachkräfte mit Kindern und Jugendlichen zusammenarbeiten und potentielle Kindeswohlgefährdungen entdecken könnten, wie z.B. in der Schule, wird der Verfahrensablauf bei Verdachtsfällen von Kindeswohlgefährdung allein über § 8a SGB VIII geregelt. Mit dieser expliziten doppelten rechtlichen Verankerung misst der Gesetzgeber dem Schutz von Kindern und Jugendlichen mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung ausdrücklich eine besondere Relevanz zu.
Gleichzeitig verdeutlicht dieser Sachverhalt, dass zumindest rechtlich-formal die Kinder- und Jugendhilfe in Fällen von Kinderschutz für alle Kinder und Jugendlichen zuständig ist, also auch für Kinder und Jugendliche mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung, die Leistungen zu Eingliederung oder Rehabilitation erhalten. Im ursprünglichen Referentenentwurf des BKiSchG war sogar die Einführung eines eigens für die Eingliederungshilfe vorgesehenen Kinderschutzparagraphen analog zum § 8a SGBVIII vorgesehen. Der geplante § 20a SGB IX hätte Einrichtungen, die mit Kindern und Jugendlichen mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung arbeiten, zum Abschluss von Kooperationsvereinbarungen mit den örtlich zuständigen Jugendämtern verpflichtet, um den Kinderschutz institutions- und organisationsübergreifend und damit effektiver zu gewährleisten. Im Zuge der Finalisierung des BKiSchG wurde diese Idee allerdings zugunsten des nun geltenden Beratungsrechts gemäß § 21 Abs. 1 S. 7 SGB IX verworfen (Deutscher Bundestag 2011, S. 45). Mit der Neufassung des § 21 SGB IX wird nichtsdestotrotz in rechtlicher Perspektive die Schutzlücke des Kinderschutzes im Bereich der Behindertenhilfe geschlossen. Neben der Neufassung von § 21 SGB VIII im Zuge des BKiSchG schließen auch andere kinderschutzrechtliche Novellierungen, wie das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz, die Arbeit mit Kinder- und Jugendlichen mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung mit ein. Hier werden neben anderen Akteuren im Bereich der Arbeit mit Minderjährigen (§ 4 Abs. 1 S. 1 KKG) auch explizit solche aus dem Heil- und Gesundheitswesen genannt. Gleichzeitig haben diese Berufsgruppen im Verdachtsfall Anspruch auf Beratung gegenüber dem öffentlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe durch eine insoweit erfahrende Fachkraft (§ 4 Abs. 2 KKG). Darüber hinaus werden die Berufsgruppen außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe explizit dazu befugt (nicht verpflichtet, da es sich um eine Befugnis- und keine Soll-Norm handelt), bei einer nicht erfolgten Abwendung der Kindeswohlgefährdung entsprechende Daten und Informationen an das zuständige Jugendamt weiterzugeben (§ 4 Abs. 3 KKG).
Gleichzeitig misst das BKiSchG mit seiner avisierten Weiterentwicklung des bundesdeutschen Kinderschutzes gerade auch dem Ausbau und der Stärkung präventiver Maßnahmen eine besondere Bedeutung zu. Vor dem Hintergrund der massiven Kindeswohlgefährdung in der Nachkriegszeit in deutschen Heimen folgt der Gesetzgeber den Empfehlungen des Runden Tisches „Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren“ (2010), was Fragen von Partizipation, Qualitäts- und Beschwerdemöglichkeiten betrifft. Mit dem BKiSchG werden auch Regelungen zur Betriebserlaubnis von stationären Einrichtungen (§ 45 SGB VIII) sowie zu Meldeverfahren (§ 47 SGB VIII) verschärft. Eine Betriebserlaubnis gemäß § 45 SGB VIII ist für alle Einrichtungen verpflichtend, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten und damit auch für solche, die Teilhabeleistungen für Kinder mit körperlicher oder geistiger Behinderung nach dem SGB IX erbringen.
Ihre Erteilung ist heute streng gebunden an die Gewährleistung des Kindeswohls (§ 45 Abs. 2 SGB VIII), die neben der medizinischen Versorgung und sozialen Integration auch an der Sicherstellung der von Verfahren zur Beteiligung und zur Beschwerde festgemacht wird. Mit § 47 Abs. 3 SGB VIII wird zudem die Verpflichtung von Einrichtungen zur unverzüglichen Meldung von Kindeswohlbeeinträchtigungen an die zuständigen Behörden rechtlich verankert. Im Falle von Minderjährigen mit Beeinträchtigung ist dies das örtlich zuständige Jugendamt.
Mit diesen gesetzlichen Novellierungen wird die vom Gesetzgeber avisierte Intension der Verzahnung aller am Kinderschutz beteiligten Akteuren deutlich, die explizit auch alle Akteure im Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung einschließt. Wenngleich nunmehr rechtlich geregelt, ist der Schutz dieser vulnerablen Gruppe in der Praxis allerdings nach wie vor mit zahlreichen Herausforderungen und Ambivalenzen verbunden. Die Intension des Gesetzgebers, Lücken im Schutz von Kindern und Jugendlichen mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung zu schließen, hat bis dato noch nicht die gewünschte Wirkung entfaltet.
Im Bereich der Behindertenhilfe lassen sich in Folge der skizzierten rechtlichen Schutzvorgaben bei vielen deutschen Trägern Bestrebungen zu einer Implementierung von partizipativ ausgelegten Präventionsstrukturen wie die Sicherstellung von Beteiligungsverfahren, eines strukturierten Beschwerdemanagements in Form von Kummerkästen oder Ombudsstellen sowie die Einführung von Maßnahmen zum Qualitätsmanagement feststellen. Insgesamt bleibt der Grad der Umsetzung des gesetzlichen Schutzauftrags in der Praxis der Behindertenhilfe in der Summe aber unzureichend (European Union Agency for Fundamental Rights 2015).
Nichtsdestotrotz ist die durch das BKiSchG avisierte Handlungs- und Rechtssicherheit im Hinblick auf Verdachtsfälle von Kinderschutz in einer Reihe von Einrichtungen der Behindertenhilfe durch Vereinbarungen mit Jugendämtern und verbindlichen Handlungsleitlinien bis hin zu Schutzkonzepten umgesetzt worden. Solche Umsetzungsbestrebungen finden sich in der Praxis allerdings bei Weitem nicht in gleicher Kontingenz bei allen Trägern wieder. Hierzu trägt sicherlich bei, dass es keine bundesweit einheitliche Erfassung hinsichtlich des Status der Umsetzung dieser Rechtsvorschriften gibt. Trotz oder gerade angesichts dieser Entwicklungen werden Fälle von Kinderschutz häufig nicht erkannt, gemeldet und damit abgewendet (Zinsmeister 2019, S. 23f.). In letzter Konsequenz ist aufgrund fehlender Überprüfung und einheitlicher Umsetzungsstandards nach wie vor von einer strukturell-organisationalen Lücke im Bereich des Schutzes von Kindern und Jugendlichen auszugehen. Diese strukturelle Lücke wird in der Praxis zusätzlich durch weitere Phänomene verstärkt: So liefern Forschungsbefunde vielfältige Anhaltspunkte, die auf ein erhöhtes Gewaltrisiko gegenüber Kindern und Jugendlichen mit Behinderung schließen lassen. Im Vergleich zu Gleichaltrigen ohne Behinderung werden sie signifikant häufiger Opfer von körperlicher und/oder psychischer und insbesondere auch sexualisierter Gewalt (u.a. Flieger et al., 2014; Bienstein et al., 2016). Auch in internationalen Kontexten spiegeln sich diese Ergebnisse wider. Maclean et al. (2017) können das erhöhte Gewaltrisiko bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in professionellen Kontexten ebenso nachweisen wie McDonnell et al. (2019), die sich auf den Bereich geistiger Behinderungen und insbesondere Autismus spezialisieren. Die Meta-Analyse von Jones et al. (2012) kommt sogar zu dem Ergebnis, dass das Risiko von Kindern und Jugendlichen mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung, Opfer von Gewalt zu werden, im Vergleich zu Gleichaltrigen ohne Behinderung drei- bis viermal erhöht ist. Besonders betroffen sind hierbei Kinder und Jugendliche mit geistigen Beeinträchtigungen, wobei der Art der Behinderung eine hohe Bedeutung zukommt. So zeigen Heinonen und Ellonen (2013) behinderungsspezifische Formen von Gewalt gegen Minderjährige auf. Sie weisen nach, dass die Art der Beeinträchtigung signifikanten Einfluss auf den Typus der erfahrenen Gewalt hat. Kinder und Jugendliche mit kognitiver Beeinträchtigung (= Lernbehinderung) erfahren etwa anderthalb Mal so häufig disziplinierende Gewalt als Gleichaltrige ohne solche Beeinträchtigungen. Kinder und Jugendliche mit Mehrfachbehinderungen sind sogar viereinhalb Mal so oft von disziplinierender Gewalt betroffen. Zudem erleben Kinder und Jugendliche mit Behinderung häufiger psychosoziale Gewalt, die in Verbindung mit anderen Differenzmerkmalen wie Ethnie, Gender oder sexuelle Orientierung steht. Behinderung verschränkt sich so mit anderen Differenzkategorien, was in Folge zu intersektionellen Mehrfachdiskriminierungen führt (McGee 2014). Zusätzlich erleben Kinder und Jugendliche mit Behinderung häufiger beeinträchtigungsspezifische Ausdrucksformen von Gewalt. Hierzu zählt die personale Gewalt. Darunter subsummiert ist ein personengebundenes, schädigendes Verhalten von (Pflege-)Personen und Grenzverletzungen, wie z.B. die intendiert fehlerhafte Medikamentendosierung, die Verletzung der Privatsphäre, das mutmaßliche Vorenthalten von Hilfsmitteln oder implizite bzw. explizite Drohungen, alltägliche Unterstützungs- und Hilfsaktivitäten einzustellen (Fitzsimons 2009, 35ff.).
Weiterhin zu wenig berücksichtigt wird der Aspekt der strukturellen Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen mit Behinderung. Gemeint sind hiermit institutionelle und organisationale Bedingungen, die die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung prägen. Diese reichen von eingeschränkter rechtlicher Autonomie, über räumlich und sozial separierende Unterbringungsformen sowie andere Praktiken der sozialen Isolation und Aussonderung, Qualifizierung des Personals sowie dessen Schlüssel bis hin zur autoritären Ausgestaltung des Tagesablaufs (Kölch & Vogel 2016, S. 40f.). Gleichzeitig spielen auch Erfahrungen kultureller Gewalt etwa in Form diffamierender Stigmatisierungen im Zusammenhang mit kulturell idealisierten Körperbildern (Dederich 2007, S. 63) sowie ökonomische Gewalt in Form von finanzieller Ausbeutung (Fritzsch 2007, S. 27f.) eine Rolle. Und nicht zuletzt können Behinderungen auch die Folge erlittener Gewalt im Kindes- und Jugendalter sein (Schröttle et al. 2013, S. 20).
An dieser Stelle ist zu betonen, dass es sich hierbei nicht einzig um Einzelfälle handelt, sondern um strukturell verankerte Gewaltrisiken innerhalb der Behindertenhilfe und des Kinderschutzsystems. Strukturelle bedingte Schutzlücken hängen vor allem damit zusammen, dass das derzeitige System der Prävention und Intervention bei Kinderschutz nicht auf die Bedürfnisse und Besonderheiten von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung ausgelegt ist. Bestehende Verfahren und Konzepte zum Schutz in Einrichtungen zeichnen sich durch wenig einheitliche Interventionsstrategien aus. Problematisch ist dabei auch, dass vielerorts Schutzkonzepte und Verfahren aus der Kinder- und Jugendhilfe adaptiert wurden, die allerdings nicht auf Menschen mit Behinderung ausgelegt sind und damit den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigung nicht gerecht werden. Dies trifft insbesondere auf Bereiche wie das Risikoscreening und die Gefährdungseinschätzungen zu, zeigt sich aber auch in der Konzeptionierung von Meldemöglichkeiten (Ombudsstellen) und Verfahren zur Beteiligung (Ebner 2018, S. 21ff.).
Entgegen den gesetzlichen Bestrebungen der besseren Vernetzung aller Akteure durch das BKiSchG sind die Fachkräfte und Organisationen der Eingliederungshilfe zudem nicht systematisch in die Kooperations- und Netzwerkbildungen des bundesdeutschen Kinderschutzes eingebunden. Auch verfügen bei weitem nicht alle Einrichtungen über Kooperationsvereinbarungen mit den örtlich zuständigen Jugendämtern. In konkreten Verdachtsfällen erfolgt daher auch die Hinzuziehung einer insoweit erfahrenen Fachkraft nicht regelmäßig. Dies kann vor dem Hintergrund fehlender regelmäßiger Schulungen von Fachkräften der Behindertenhilfe folgenreich sein, denn diesen fehlt dann systematisiertes Wissen, um mögliche Kindeswohlgefährdungen ihrer Adressaten zu erkennen (Ebner, 2018, S. 24). Umgekehrt fehlen aber auch den Kinderschutzfachkräften der Kinder- und Jugendhilfe erforderliche Kenntnisse im Bereich der Behinderung, die es erlauben, die Spezifika behinderungsspezifischer Kindeswohlgefährdungen auszumachen (Struck et al. 2010 S. 201).
Werden vor diesem Hintergrund Risikoscreening und Gefährdungseinschätzungen vorgenommen, ist in letzter Konsequenz die Gefahr gegeben, dass Kindeswohlgefährdungen von beiden Seiten übersehen werden. Im Zuge fehlenden Wissens über Behinderungen und mangelnder Sensibilität für Schutzsituationen werden mögliche Anhaltspunkte für Kindeswohlgefährdungen häufig nicht als solche erkannt, sondern auf Verhaltensauffälligkeiten im Zusammenhang mit der Beeinträchtigung zurückgeführt. Hinzu kommt, dass insbesondere im Fall von geistiger Beeinträchtigung die Aussagefähigkeit betroffener Kinder und Jugendlicher in Frage gestellt wird und sie häufig nicht in angemessener Weise gehört und beteiligt werden (Hennicke et al. 2009, S. 27). Parallel hierzu ist die Praxis auch im Bereich der Behindertenhilfe geprägt von Ökonomisierungstendenzen und Effektivitätsdruck. Für Fachkräfte führt eine solche Regulierung der Arbeits- und Produktionsbedingungen bei vergleichsweise hoher individueller Verantwortung häufiger zu massiven Belastungsmomenten (Dahme & Wohlfahrt 2009, S. 165).
Weiterhin sind Grenzerfahrungen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung auch immer vor der strukturellen Beziehungsasymmetrie zwischen (professionellen) Tätern und Betroffenen zu sehen. Aufgrund ihrer Abhängigkeit von der Hilfe anderer kann es für Betroffene umso schwieriger sein, Grenzverletzungen offenzulegen (Urban-Stahl 2012, S. 5). Verstärkt werden können diese strukturell erhöhten Gewaltrisiken zusätzlich noch durch persönliche Barrieren und Dynamiken in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung. Darunter werden persönliche defizitäre Sichtweisen und abwertende Haltungen gegenüber Menschen mit Behinderung verstanden, die dazu führen können, dass Gefährdungen für diese nicht als solche identifiziert werden (Fitzsimons 2009, S. 63ff.). Erschwerend kommt hinzu, dass eine defizitäre Sichtweise auf Behinderungen auch wesentlich das Selbstbild der betroffenen Kinder und Jugendlichen prägt. Die Folge können Phänomene wie die sog. gelernte Hilflosigkeit, ein geringes Selbstwertgefühl und im Falle von Gewalterfahrungen Selbstbeschuldigungen sein (Fitzsimons 2009, 89ff.). Dies führt im Umkehrschluss dazu, dass Gewalterfahrungen von den betroffenen Kindern und Jugendlichen entweder gar nicht als solche erkannt werden – zu nennen ist hier beispielhaft die unzureichende sexuelle Aufklärung und damit verbunden ein nicht ausgeprägtes Bewusstsein für Grenzüberschreitungen – oder, sofern sie erkannt werden, aufgrund kommunikativer, psychosozialer und/oder physischer Barrieren nicht angezeigt werden. Nicht zu unterschätzen ist die Ausübung von Macht durch Betreuungspersonen, die darum wissen, dass die Betroffenen im Alltag nur schwerlich auf ihre Hilfe verzichten können. Hier bestehen teils erhebliche Abhängigkeitsverhältnisse im Sinne von Hürden der Benennung von Gewalt. Und selbst wenn Betroffene den Mut und die Stärke aufbringen, um Grenzüberschreitungen anzuzeigen, muss bedacht werden, dass nicht jeder junge Mensch mit Behinderung kommunikativ hierzu in der Lage ist. Vor allem aber auch die mitunter fehlende Aufklärung darüber, was Gewalterfahrungen ausmacht, wie sie abzugrenzen sind und wer in solchen Fällen vertrauensvolle Ansprechpartner sind, stehen den Betroffenen nicht systematisch zur Verfügung (Allofs 2014, S. 19f.).
Alles zusammengenommen lässt die Schlussfolgerung zu, dass sowohl von strukturellen als auch praxisbezogenen Schutzlücken im Bereich der Hilfen für Kinder und Jugendliche mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung auszugehen ist. Im Zusammenspiel führen diese strukturellen und fachlichen Barrieren und Dynamiken dazu, dass Kinder und Jugendliche mit körperlicher und/oder geistiger Behinderungen in besonderem Maße auf funktionierende strukturelle und professionelle Schutzmechanismen angewiesen sind.
Jan Weisser zeigt in seiner differenztheoretischen Konzeption von Behinderung exemplarisch am Erziehungssystem auf, wie die Differenzlinie „Behinderung/Nichtbehinderung“ innerhalb von Institutionen bzw. Organisationen und Praktiken entlang erfüllter bzw. nicht erfüllter Erwartungen gezogen wird. Innerhalb der Organisationen des Erziehungssystems geht es im Sinne einer Einheitsformel prinzipiell immer darum, Erziehung und Bildung für alle zu ermöglichen. Die Differenz entsteht, wenn „eine Seite nicht erfüllt, was die andere verlangt, aber beide Seiten kopräsent sind“: Es fehlt letztendlich an Heterogenitätstoleranz (Weisser 2005, S. 72).
Übertragen auf Schutzbemühungen im Bereich der Behindertenarbeit kann auch in diesem Arbeitsfeld von einer solchen Heterogenitätstoleranz ausgegangen werden, die aus nicht erfüllten Erwartungen hervorgeht. Diese bilden sich signifikant in den organisationalen und professionellen Praxen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung ab. Schutzlücken sind demzufolge das Resultat einseitig konstruierter Schutzvorstellungen und ihrer praktischen Umsetzung. An dieser Konstruktion sind aber gerade diejenigen nicht beteiligt, die geschützt werden sollen. Im Gegenteil, gegenwärtige Konzepte und Verfahrensweisen zum Schutz spiegeln vielmehr institutionalisierte Strukturen und Erwartungshaltungen professioneller Akteuren wider und sind quasi blind für die Perspektive der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung selbst. Diese strukturellen und handlungsdynamischen blinden Schutzflecke sind bislang konstitutiv für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung. In Grenzen überschreitenden Kontexten treten diese verstärkt zu Tage, wie die folgenden Ausführungen zeigen.
V. KINDERSCHUTZ UND BEHINDERUNG IN DER GROSSREGION – EMPIRISCHE ERKUNDUNGEN
Mit wachsender Mobilität in Zeiten des europäischen Einigungsprozesses beschränken sich Fragen des Kinderschutzes nicht mehr nur auf einzelne Länder. Lebens- und Handlungsvollzüge in privaten und öffentlichen Kontexten sind heute zunehmend transnational geprägt. In Folge dieser Entwicklung rücken im Bereich des Kinderschutzes vermehrt Grenzen überschreitende Fallverläufe und Schutzprozesse in den Fokus. Auch in der Großregion „SaarLorLux+“ gibt es seit längerem das Bestreben, Kinderschutz in nationalen und Grenzen überschreitenden Kontexten zu optimieren. In dieser Region, im sog. Herzen Europas, stellen transnationale Lebensvollzüge keine Seltenheit dar. Tagtäglich passieren Grenzgänger nationale Landesgrenzen, um zu arbeiten, einzukaufen oder auch soziale Dienste in Anspruch zu nehmen. Daher vermag es kaum zu überraschen, dass auch Kinder und Jugendliche, die in öffentlichen Schutzkontexten betreut werden, wiederholt Ländergrenzen überschreiten, wenn sie ambulante oder stationäre Hilfen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe nutzen. Vor diesem Hintergrund hat sich in der Großregion ein transnationaler Versorgungsmarkt im sozialen Dienstleistungssektor etabliert, der getragen wird von routinierten Überweisungspraktiken und grenzüberschreitenden Kooperationsstrukturen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren des Kinderschutzes dies- und jenseits nationaler Landesgrenzen (Diwersy & Schulze-Krüdener 2019).
Die systematische Erfassung solcher transnationalen Bewegungen im Kinderschutz sowie die Analyse des großregionalen sozialen Dienstleistungssektors sind zentrale Anliegen des europäischen Förderprogramms INTERREG VA Großregion (2014-2020, www.interreg-gr.eu). Mehrere Einzelprojekte stehen in der Tradition dieses transnationalen Forschungsprogramms. Ging es zunächst um Vergleiche in den französischsprachigen Teilen der Großregion (Balzani et al. 2015), ist das Ziel des Interreg-Projekts EUR&QUA (2017-2020) einen Grenzen überschreitenden Raum zum internationalen Kinderschutz zu entwickeln, der auf der Sicherstellung der UN-Kinderrechte als internationalem Referenzrahmen basiert. Was sich bei der theoretischen und empirischen Annäherung am Kinderschutz in der Großregion zeigt – und dies in verstärkter Weise in Grenzen überschreitenden Kontexten – ist, dass es sich bei Kinderschutz um ein soziales Konstrukt handelt, das je nach Blickwinkel unterschiedlich konnotiert ist. Die Fallverläufe im Kinderschutz sind hochkomplexe und dynamische, nie vollends rekonstruierbare Situationen, in denen diverse Akteure aus unterschiedlichen Bereichen verstrickt sind, die eine unterschiedliche Sichtweise auf Kinderschutz haben (können). In transnationalen Schutzsituationen treten hierzu oftmals noch Sprach- und Kulturbarrieren und stark voneinander differierende Professions- und Organisationskulturen auf. In der Folge geraten bei den in Kinderschutzfällen beteiligten Akteuren aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten die eigentlichen Schutzbedürftigen, die Kinder und Jugendlichen, viel zu häufig aus dem Blick. Dazu zählt mit den Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen, also denjenigen, denen eine Behinderung attestiert worden ist, ein besonders schutzbedürftiger Personenkreis. Rechtlich ist die Sozialhilfe für sie zuständig und im Gegensatz zu der Kinder- und Jugendhilfe spielen die verschiedenen Facetten des Kinderschutzes hier tendenziell noch eine untergeordnete Rolle, wie die nachstehende Falldarstellung zeigt, die auf der narrativen Schilderung der fallbearbeitenden Fachkräfte in der aufnehmenden deutschen Einrichtung basiert.
Tim wird 2000 in Portugal geboren. Ein halbes Jahr nach seiner Geburt ziehen beide Elternteile zusammen nach Luxemburg, um sich dort Arbeit zu suchen. Tim wird bei der Großmutter in Portugal zurückgelassen und verbleibt dort 18 Monate, bis er zwei Jahre alt ist. Während dieser Zeit wird er von seiner Großmutter vernachlässigt und grob misshandelt. Daher veranlasst Tims ebenfalls in Portugal lebende Tante, dass Tim zu seiner Mutter nach Luxemburg kommt. Zu diesem Zeitpunkt sind die Eltern von Tim in Luxemburg bereits getrennt. Der Vater von Tim ist aufgrund von Drogendelikten mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Die Mutter hat zwischenzeitlich einen neuen Partner kennengelernt und ist wieder schwanger. Nach behördlichem Eingreifen in Luxemburg lebt die Mutter dort mittlerweile in einem Mutter-Kind-Heim. Hierhin kommt nun auch Tim. Aufgrund der Überforderung der leiblichen Mutter kommt Tim 2003 in eine erfahrene Pflegefamilie in Luxemburg. Auch hier fühlt man sich mit der Zeit von Tims Verhalten überfordert. Die fallzuständige Luxemburger Behörde beschließt daher, dass eine Unterbringung in einer Pflegefamilie keine geeignete Hilfeform mehr für Tim darstellt. Sein Entwicklungsstand und Sozialverhalten (zunehmende Aggressionen, gewalttätiges Verhalten) machen aus ihrer Sicht eine Vollzeitbetreuung notwendig. Eine solche Betreuungsform kann in Tims Heimatland nicht gefunden werden. Mit sechs Jahren kommt Tim in eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung nach Deutschland. Hier wird er stationär in eine Wohngruppe für Minderjährige aufgenommen und in der einrichtungseigenen Förderschule eingeschult. Obwohl die Kooperation mit der fallzuständigen Luxemburger Sozialbehörde als gut beschrieben wird, werden kaum Informationen an die deutsche Einrichtung weitergegeben und auch kein medizinisches Gutachten, aus dem eine Behinderung hervorgeht. Da ein solches Gutachten allerdings Bedingung für die Aufnahme in die Einrichtung ist, wird im Zuge der stationären Aufnahme in die Wohngruppe ein psychiatrisches Gutachten erstellt, das auch Grundlage für die Einschulung in die Sonderschule der Einrichtung ist. Heute ist Tim seit vierzehn Jahren in der Einrichtung und mittlerweile volljährig. Auf Anfrage der fallzuständigen Luxemburger Behörden besucht er aktuell die Schule seit 14 Jahren. Eine weitere Verlängerung der Finanzierung durch die fallzuständigen Luxemburger Sozialbehörden ist rechtlich nicht mehr möglich. Tims Wunsch ist es, in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung zu arbeiten. Da weiterhin die Luxemburger Behörden für Tim zuständig sind, kann er nicht in Deutschland bleiben. Er muss zurück nach Luxemburg. Dort kann allerdings keine vergleichbar adäquate Hilfe für Tim gefunden werden. Tims Wunsch, in Zukunft in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung zu arbeiten, kann somit nicht entsprochen werden.
In grundsätzlicher Perspektive stellt sich in transnationalen Hilfeverläufen (innerhalb der von uns untersuchten Großregion) die Frage, aus welchen Gründen überhaupt nationale Landesgrenzen überschritten werden und was es rechtfertigt, mögliche weitere Risiken, die im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von sozialen Hilfen in einem anderen Land stehen (wie soziale Entfremdung, kulturelle Entwurzelung, Rückkehrproblematiken), „in Kauf zu nehmen“. Tims Fall macht deutlich, dass in Grenzen überschreitenden Kontexten akute Kinderschutzfragen Ausgangspunkt der Grenzüberschreitung darstellen. Ein zentraler Bewegrund für die Suche nach einer Hilfe in einem anderen Land ist die nicht gegebene Möglichkeit, den Schutz des Kindes im eigenen Land infolge infrastruktureller Engpässe sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht sicherzustellen. Die Hilfesysteme der Länder der Großregion unterscheiden sich mitunter deutlich im Hinblick auf Strukturen und Ausbau, aber auch durch konzeptionelle Ausrichtungen und fachlicher Spezialisierungen. Steht kein Platz mehr zur Verfügung oder geraten Helfer (-systeme) an die Grenzen ihrer fachlichen Belastbarkeit, eröffnet der Blick in Nachbarländer der Großregion mit anderen Hilfestrukturen neue Perspektiven. Nur in wenigen Fällen spielen allerdings dezidiert sozialpädagogische Überlegungen im Sinne einer gezielten Suche nach einem passenderen Angebot eine Rolle. Zunächst stellt der Grenzübertritt eine unmittelbare Entlastung des entsendenden Helfersystems dar. Der Grenzübertritt ermöglicht zunächst den Fall weiterbearbeitbar zu halten und gleichzeitig können akute Schutzfragen kurzfristig gelöst werden. Da die Grenzüberschreitung als zunächst alternativ- und perspektivlose Möglichkeit konstruiert wird, den Schutz des Kindes bzw. der/des Jugendlichen sicherzustellen, rücken längerfristige Risiken oftmals in den Hintergrund. Der Grenzübertritt erscheint als Mittel der Wahl, um Schutz dort zu gewährleisten, wo nationale Hilfesysteme an ihre Grenzen stoßen. In diesem Zusammenhang darf keineswegs ausgeblendet werden, dass Kinderschutzfälle nach einer angezeigten Kindeswohlgefährdung mit anschließender (Grenzen überschreitender) Intervention in der Regel keineswegs beendet sind. Nach der Intervention – wie im Falle von Tim einer stationären Unterbringung im benachbarten Ausland – geht die Fallbearbeitung weiter. Im Falle akuter Kindeswohlgefährdung wird situationsspezifisch eingegriffen. Das Kind bzw. die/der Jugendliche sind darüber hinaus weiterhin zu schützen – sowohl was die direkten, als auch indirekten Bedrohungen für ihr Wohl angeht. In Einrichtungen zählt hierzu auch der Schutz vor gewaltsamen Übergriffen. Ferner geht es darum, strukturelle und indirekte Gewalt abzuwenden und verlässliche Strukturen zu schaffen, die sich förderlich auf die weitere Entwicklung der Kinder und Jugendlichen auswirken.
Die oben skizzierte Falldarstellung macht weiterhin deutlich, dass die Entscheidung zum Grenzübertritt maßgeblich in Zusammenhang mit dem vorhandenen strukturellen Ausbau des Hilfesystems im Herkunftsland steht und zunächst eine unmittelbare Lösung innerhalb der Falldynamik bzw. Fallgeschichte darstellt. Zudem liefert die Fallrekonstruktion Hinweise darauf, dass vor allem die Herstellung institutioneller Passung und organisationaler Zuständigkeiten als Indikator für eine funktionierende Fallarbeit und Sicherstellung von Kinderschutz angesehen werden. Indikator hierfür sind formale organisationsbezogene Prozesse der Adressierung. Die Falldeutung unterliegt in Tims Fall maßgeblich dem Selbstverständnis der entsendenden und der aufnehmenden Organisation. Sie basiert weniger auf konkretem Fallwissen als auf organisationaler Formierungsmacht und organisationsspezifischen Deutungsmustern. Obwohl der aufnehmenden Einrichtung nur wenige Information zu Tims Vorgeschichte und Diagnosen zur Verfügung stehen, erfolgt die Aufnahme unter kommunikativer Aushandlung von Zuständigkeiten entlang professioneller Deutungsspielräume (Graßhoff 2015, S. 83f.). Die Möglichkeit der organisationalen Wiederbearbeitbarkeit des Falles dominiert die Fallkonstruktion und den Fallverlauf im Sinne der Herstellung eines Falles von Behinderung und eines Falles für die aufnehmende Einrichtung (Müller, 2017).
Weitere grundlegende Problematiken Grenzen überschreitender Schutzkontexte werden mit Tims Eintritt in die Volljährigkeit evident. Deutlich wird, dass institutionelle Rahmenbedingungen und organisationale Zwänge maßgeblich für den weiteren Fallverlauf sind. Tim kann aufgrund rechtlicher Vorgaben nicht länger in der Einrichtung bleiben. Gleichzeitig kann seinen eigenen Wünschen und Plänen für die Zukunft nicht entsprochen werden, da dies strukturelle Barrieren (Rechtsysteme beider Länder, Ausbau des Hilfesystems, formale Zuständigkeiten etc.) im Sinne indirekter struktureller Gewalt verhindern. Es gelingt in diesem Fall zwar, Tims Sichtweise einzufangen, nicht aber diese in die Fallplanung zu integrieren.
In der Gesamtschau lassen die skizzierten institutionellen, organisationalen und professionellen Adressierungsprozesse im dargelegten Fall, der stellvertretend für andere steht, den Schluss zu, dass der Perspektive der Adressaten nicht systematisch gerecht wird. Die Folge für die Adressatem sind erlebte Ohnmacht, Handlungsunfähigkeit und das Gefühl verstärkter, erlebter Machtasymmetrien. Gleichzeitig wird in Tims Fall auch offenkundig, dass die längerfristigen und kindeswohlbezogenen Folgen der Grenzen überschreitenden Inanspruchnahme einer schutzbezogenen sozialen Hilfe häufig nicht von Anfang an mitgedacht werden. In der Folge werden Risiken wie die Möglichkeit einer Entwurzelung und Entfremdung sowie die Perspektive der Rückführung nicht systematisch von Beginn an mit reflektiert. Ungeklärt bleibt unterdessen in diesem Fall, wie auch in vielen weiteren Kinderschutzfällen, inwiefern Tim in die Entscheidung zur Grenzüberschreitung überhaupt mit einbezogen worden ist.
In grundsätzlicher Perspektive können diese und vergleichbare Grenzen überschreitende Schutzpraktiken als Resultat eines relationalen Zusammenspiels gegebener gesetzlicher Rahmungen, organisationaler Strukturen und Selbstverständnisse und hiervon determinierter professioneller Handlungsmöglichkeiten gedeutet werden. Allerdings zeigt sich zugleich, dass in diesem transnationalen Geflecht Schutz zwar formal stattfindet, die in Menschenrechtabkommen geforderten Sicherstellung subjektiver Autonomie und Teilhabe sog. „schwacher“ Gruppen sowie der Miteinbeziehung ihrer Interessen allerdings nicht in befriedigender Form entsprochen wird.
VI. DIE LÜCKE SCHLIESSEN: DIE DEBATTE UM DAS WARTEN AUF DIE „GROSSE LÖSUNG“
Die formale Trennung der Zuständigkeit für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung ist seit ihrer Einführung immer wieder Gegenstand fachlicher und politischer Auseinandersetzungen. Spätestens mit der Verabschiedung der UN-Behindertenkonvention 2006 wird das lange Zeit verfolgte Bestreben einer Gesamtzuständigkeit der Kinder und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen konkret unter den Überschriften der „Großen Lösung“ oder „Inklusive Lösung“ verhandelt.
Im Jahr 2016 wird das Bundesteilhabegesetz verabschiedet, das vor dem Hintergrund der Bestimmungen der UN-Behindertenkonvention auf eine Neubestimmung des Verständnisses von Behinderungen, die Verbesserung von Leistungen der Eingliederungshilfe und die Sicherstellung von Inklusion von Menschen mit Behinderung zielt. Es tritt in vier Reformstufen in Kraft. Zum 01.01.2020 ist die dritte Reformstufe in Kraft getreten, die zur Trennung von Leistungen der Eingliederungshilfe von existenzsichernden Leistungen geführt hat. Mit dieser Reform wird gleichsam auch der § 35a SGB VIII novelliert. Das BTHG sieht u. a. die Neuausrichtungen von Leistungen vor, bei der Teilhabe und Selbstbestimmung garantiert und Leistungs- und Teilhabeplanung stärker als früher individualisiert sind. Für Kinder- und Jugendliche mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung sind wichtige Hilfen zur Eingliederung nach § 102 SGB IX „Leistungen zur Teilhabe an Bildung“ sowie „Leistungen zur Sozialen Teilhabe.“ Nichtsdestotrotz besteht nach wie vor eine Trennung der Zuständigkeiten von Jugend- und Sozialhilfe in Bezug auf die diagnostizierte Behinderung. Diese gesetzliche Trennung wird seit langem in fachlichen Diskursen kritisiert, denn entsprechend dem Normalitätsprinzip, das in der UN-Kinderrechtskonvention und in der UN-Behindertenrechts-konvention zum Ausdruck kommt, sind auch Kinder und Jugendliche mit Behinderung in erster Linie Kinder und Jugendliche und haben somit ein Recht auf Erziehung (§ 1 SGB VIII). Angestrebt wird daher die Aufhebung der Zuständigkeitstrennung und die Einführung der Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen, die als inklusive Lösung die Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und für alle Jugendliche fordert (u.a. Paritätischer Gesamtverband 2019). Eine Novellierung des SGB VIII, die diese inklusive Lösung vorsieht, steht unmittelbar bevor.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen hat es der 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung öffentlichkeitswirksam zur Aufgabe gemacht, explizit die Lebens- und Schutzbedingungen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in den Blick zu nehmen. Der Jugendbericht liefert wichtige Erkenntnisse zu den Strukturdynamiken, die aus dieser Trennung hervorgehen. Konstatiert wird, dass es mit Ausnahme des Bereichs medizinischer Diagnostik kaum Daten über die gesundheitliche Lebenslage von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung gibt, wobei die vorhandenen überwiegend medizinischen Diagnosen eine signifikante Defizitorientierung aufweisen und vorhandene Ressourcen nicht in den Blick genommen werden. Gleichzeitig wird herausgestellt, dass Behinderungen im Kindes- und Jugendalter entgegen sozialkonstruktivistischer Aspekte von Beeinträchtigungen immer noch als personenzentriertes Problem und nicht als institutionell gesellschaftliches Problem verstanden werden (BMFSFJ 2009, S. 103ff.). Zudem wird der Hilfebedarf häufig aus einer Institutions- und Organisationslogikheraus formuliert und nicht ausgehend vom tatsächlichen individuellen Bedarf des Kindes oder der bzw. des Jugendlichen.
Der Jugendbericht betont ferner, dass die Praxis der Leistungsträger maßgeblich bestimmt wird durch Unklarheiten der Zuständigkeit zwischen Sozialhilfe und Jugendhilfe sowie Abgrenzungspraktiken, die sich nachteilig auf die Sicherstellung von Schutz und Inklusion auswirken (BMFSFJ 2009, S. 232f.). Die Sachverständigenkommission des Berichts kommt zum weg- und zukunftsweisenden Schluss, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung in erster Linie Kinder und Jugendliche mit Bedürfnissen, Entwicklungsaufgaben und Problemen sind, wie sie alle jungen Menschen haben. Gerade im Kindes- und Jugendalter vermischen sich erziehungsspezifische und behinderungsspezifische Bedarfskategorien und die Zuordnung zur Behindertenhilfe birgt die Gefahr in sich, dass entwicklungsbezogene Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung aus dem Blick geraten. Als Lösungsoption wird eine Verlagerung der Eingliederungshilfe für Minderjährige mit Behinderung in den Zuständigkeitsbereich der Kinder- und Jugendhilfe avisiert (BMFSFJ 2009, S. 14). Auch wenn eine solche Zusammenführung im Sinne der UN-Kinderrechte sowie der UN-Behindertenrechte folgerichtig ist, ist das Problem übersehener (Schutz-) Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung mit einer einzig rechtlich-formalen Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe keineswegs zu lösen sein.
Innerhalb des sozialpädagogischen Diskurses dominiert ein Menschenbild, das vor allem die Stärken, die Resilienz und die Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen betont. Kennzeichnend für das professionelle Handeln in sozialpädagogischen Handlungs- und Arbeitsfeldern ist die Zielvorgabe, die Adressaten zur Autonomie zu führen und Schwächen in Stärken umzuwandeln (Dederich & Zirfas 2017, S. 101f.). Dieses Ziel lässt sich allerdings nicht problemlos und 1:1 auf den Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung übertragen. Geht es gleichfalls darum, diese in ihrer Autonomie zu stärken, sie zu beteiligen und Bedingungen zu schaffen, die ihrer Entwicklung dienlich sind, haben viele von ihnen irreversible Beeinträchtigungen. Gleichzeitig werden aber nach wie vor gesellschaftspolitische und sozialpädagogische Ziele, wie zum Beispiel die gesellschaftliche Teilhabe, noch immer vorwiegend an der Norm des Menschen ohne Beeinträchtigung gemessen. Fragen von Inklusion, Schutz und gesellschaftlicher Teilhabe weisen daher weit über die rechtliche Neuregelung der Sozialgesetzbücher hinaus.
Eine Herausforderung wird es sein, Kinder und Jugendliche mit besonderem Unterstützungsbedarf im Zuge der geplanten Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe nicht nur in ihren Zuständigkeitskreis zu integrieren, sondern zu inkludieren. Mit Inklusion ist dabei der Partizipationsanspruch an der umfassenden Ausgestaltung dieses Prozesses gemeint. Die Bedingungen zur Möglichkeit einer solchen sozialen Teilhabe an Bildungs-, Erziehungs- und Sorgeprozessen für alle Kinder und Jugendlichen wird neue Strukturen, Organisations- und Handlungsformen innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe erfordern (Oehme & Schröer 2018, S. 276). Entscheidend wird daher sein, inwiefern es in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention gelingt, inklusives Arbeiten umfassend und dauerhaft sicherzustellen. Bislang liegen der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe unterschiedliche Professionskulturen und Förderlogiken zugrunde. Während in der Kinder- und Jugendhilfe überwiegend standardisierte Angebote zur Verfügung stehen, werden im Rahmen der Eingliederungshilfe eher flexiblere Hilfen gewährt (AGJ 2019, S. 3). Dies trifft insbesondere auf die Bereiche des präventiven und intervenierenden Kinderschutzes zu. Im Sinne eines präventiven Kinderschutzes bedarf es daher der Schaffung neuer, barrierefreier Infrastrukturen, neuer inklusiver Angebote und ein Ende der sozialräumlichen und lebensweltlichen Separation. Für die Praxis des intervenierenden Kinderschutzes sind ebenfalls inklusivere Zugänge notwendig. Gefährdungssituationen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung sind häufig subtil, etwa wenn es sich um strukturelle Gewalt handelt. Sie sind daher nach den Logiken derzeitiger Verfahren zur Feststellung von Kindeswohlgefährdungen im Rahmen des Schutzauftrags der Kinder- und Jugendhilfe nicht unmittelbar feststellbar. Es bedarf daher eines sensiblen Blicks von Fachkräften des Kinderschutzes und ein Verständnis für die Spezifika der Situationen von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigung. Fredmann et al. (2017, S. 6) führen im Kontext der Rechte von Menschen mit Behinderung vier zu erfüllende Dimensionen an: erstens eine gerechtere Verteilung von Ressourcen, zweitens die Anerkennung aller Formen von Vielfalt, drittens die Förderung von Beteiligung und schließlich viertens die Anpassung von Räumen und Strukturen. Mit Blick darauf gilt es nun, dieses weite Inklusionsverständnis mit einem weiten Kinderschutzverständnis zu verbinden und verlässliche, sichere Schutzstrukturen zu schaffen, die nicht der Logik von institutionellen Arrangements und organisationalen Mustern entsprechen, sondern den tatsächlichen Schutzbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen.
VII. HERAUSFORDERUNGEN UND SCHLUSSFOLGE-RUNGEN FÜR DIE KINDERSCHUTZARBEIT
Fragen des Kinderschutzes erstrecken sich weder auf einzelne Gruppen von Kindern und Jugendlichen noch auf einzelne Länder. So vielfältig die Schutzkontexte und -situationen der Betroffenen sind, so vielfältig sind auch die Vorstellungen von dem, was Kinderschutz ausmacht. Allzu häufig lassen diese Vorstellungen Kinder und Jugendliche außer Acht, die eine Behinderung aufweisen. Der Umsetzung der in der UN-Behindertenkonvention zugesicherten umfänglichen Inklusion steht derzeit noch zu häufig ein defizitorientierter Blick auf Menschen, insbesondere auf Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen, entgegen. Es bedarf der Stärkung des Bewusstseins, dass Behinderungen sozial konstruiert sind und alle Menschen Beeinträchtigungen in der ein oder anderen Art aufweisen. Ebenso bedarf es eines neuen Blicks auf Kinderschutz. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen, ob nun mit diagnostizierter Behinderung oder nicht, muss Selbstzweck sein und nicht im Schatten von erwerbsarbeitszentrierten Wohlfahrtspolitiken, organisationalen Optimierungsprozessen oder selbstreferentieller Professionalisierung sein. Basis für diesen Anspruch stellen internationale Menschenrechtsübereinkommen dar. Sie besitzen zwar ihrem Anspruch nach universelle Gültigkeit, sind aber immer rückgebunden an ihre Anerkennung und Umsetzung durch einzelne Staaten. Dies zeigt sich auch bei den UN-Kinderrechten und der UN-Behindertenkonvention. Diese Übereinkommen sind zwar auf internationaler Ebene ausgehandelt, ratifiziert werden sie allerdings von einzelnen Nationalstaaten und sind dort im Hinblick auf ihre konkrete Umsetzung immer verwoben in nationale rechtliche, politische und kulturelle Kontexte und insofern vorherrschende staatliche Institutionalisierungsmuster und Organisationsformen.
Für die Zukunft eines inklusiven Kinderschutzes wird es letztlich entscheidend sein, was die Grenzen überschreitende Leitmotive institutioneller, organisationaler und professioneller Weiterentwicklung sind. Internationale Abkommen wie die UN-Kinderrechte und die UN-Behindertenkonvention legen ein wichtiges Fundament, um einen neuen Blick auf Kinder und Jugendliche und Behinderung zu entwickeln. Kinder und Jugendliche mit Behinderung sind in erster Linie Kinder und Jugendliche und alle Kinder und Jugendliche sind in erster Linie autonome Subjekte. Sie alle haben Anspruch darauf, dass ihre Würde gesichert, ihre Interessen berücksichtigt und ihr Wohl gesichert wird. Unerlässlich hierfür ist es nicht nur, ihnen in der zukünftigen Organisation des Kinderschutzes eine Stimme zu verleihen, sondern diese zum unverzichtbaren Bestandteil allen fachlichen Handelns zu machen. Was Deutschland und seinen Umgang mit Behinderungen betrifft, scheint die „Große Lösung“ ein unverzichtbarer formaler Schritt zu sein. Da Inklusion mitsamt ihren vielfältigen Referenzen sich aber in der Praxis vollzieht und beweisen muss, ist inklusiver Kinderschutz auf das Engagement aller beteiligten Akteure angewiesen, die nur in einem gemeinsamen Aushandlungsprozess mit den Adressaten selbst situationsspezifisch herausfinden können, was Kinderschutz sein kann und wie er umzusetzen ist. Kinder und Jugendliche gerade auch in Ländergrenzen überschreitenden Kontexten zu schützen, wird daher umso voraussetzungsvoller werden: Alles schützt Kinder, aber nicht alles ist Kinderschutz.
Grenzen überschreitend bedarf es daher ebenfalls einer „Großen (bzw. Inklusiven) Lösung“, aber nicht einzig im rechtlichen Sinne einer formalen Zusammenlegung von Zuständigkeiten, sondern vielmehr auch im Sinne eines Bewusstseins dafür, dass Schutz mehr ist als nur ein punktueller Eingriff. Kinderschutz ist vielmehr als Prozess im Sinne eines gemeinsamen, Grenzen überschreitenden Projekts zu sehen. Auf dem Weg zu inklusiven Gestaltungsstrategien im Kinderschutz geht es vorrangig darum „gesellschaftliche Sichtweisen und Praktiken so verändern zu können, dass Menschen mit besonderen körperlichen Merkmalen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen ein voller Subjektstatus und uneingeschränkte Partizipation möglich wird“ (Waldschmidt & Schneider 2007, S. 13).
Résumé : Les enfants et les adolescents handicapés sont avant tout des enfants et des adolescents
Les questions de protection de l’enfance se sont de plus en plus placées au centre des débats professionnels et politiques dans les contextes nationaux et internationaux. Les principales raisons en sont une nouvelle prise de conscience des phases de la vie de l’enfance et de l’adolescence ainsi que l’évolution des formes de vie et de la famille. Ces changements trouvent leur expression juridique dans des textes internationaux, comme par exemple dans la Convention internationale des droits de l’enfant (CIDE), mais aussi dans de nombreuses réformes juridiques nationales qui garantissent aux enfants et aux jeunes des espaces particuliers de protection et de développement. L’approche suivie par la CIDE, selon laquelle les enfants et les jeunes ne doivent plus être considérés comme des objets, mais comme des sujets de droits bénéficiant de droits inaliénables propres dans les domaines de la protection, de la prévention et de la participation s’inscrit dans cette évolution. A l’occasion de cette prise en compte des enfants et des jeunes, et notamment de la garantie de leurs droits, un large débat s’est ouvert quant à l’efficacité des systèmes nationaux de protection de l’enfance, quant à la détermination des facteurs de risques et des besoins de protection ainsi que sur le rôle de la prévention en matière de protection de l’enfance. Trop souvent, cependant, ces débats se cantonnent à des cadres strictement nationaux, de sorte que des données et études fiables sur la protection des enfants et des jeunes en contexte transfrontalier ne sont que partiellement disponibles.
Le projet de recherche Interreg EUR&QUA (2017-2020, www.eur&qua.eu) a eu pour objectif l’étude des parcours transnationaux de protection de l’enfance dans le cadre des interconnexions transfrontalières croissantes du secteur des services sociaux dans la Grande Région « SaarLorLux+ ». Ces parcours transfrontaliers visent le cas des jeunes ou enfants qui passent au moins une fois une frontière nationale pour profiter d’une mesure de protection sociale Dans ce contexte, toutes les mesures d’aide à l’enfance, à la jeunesse, mais aussi aux personnes en situation de handicap ont été considérées comme des hypothèses de protection de l’enfance. En adoptant une conception et une compréhension de la protection de l’enfance à la fois interventionniste et préventive, le constat empirique selon lequel de nombreux cas, qui relèvent officiellement de domaine de l’assistance aux personnes handicapées, sont également des situations de protection de l’enfance au sens de mises en danger (in-) directes du bien-être des enfants doit être fait.
Dans cette optique, l’article reprend un autre débat mené au niveau international sur la garantie des droits fondamentaux, sur le respect de l’égalité, qui doit aussi profiter aux enfants et aux jeunes en situation ou non de handicap. La raison en est que, parallèlement aux discours sur la valeur, l’organisation ainsi que l’optimisation de la protection de l’enfance, dans le domaine du handicap on a assisté au niveau mondial à changement de paradigme quant à la vision des limitations ou affectations. L’adoption de la Convention internationale relative aux droits des personnes handicapées (CDPH) ratifiée par 177 pays dans le monde en est une des manifestations.
La préoccupation centrale de cette convention a été de ne plus considérer les personnes en situation de handicap sous un angle médical, comme c’était le cas auparavant, mais comme des personnes bénéficiant de l’égalité des droits. L’approche du handicap sous un angle social et l’exigence d’inclusion qui en découle ont eu des conséquences de grande portée. Il s’est en effet agit de faire disparaitre les obstacles, de protéger contre les discriminations et d’assurer une participation égale à la société pour tous quel que soit le handicap. Dans de nombreux pays, la politique sociale a depuis lors été marquée par de nombreux efforts d’inclusion. En Allemagne, où la CDPH est entrée en vigueur en 2009, la loi fédérale sur la participation (Bundesteilhabegesetz, BTHG) a été adoptée dans ce contexte. En matière de protection des enfants et jeunes en situation de handicap, la réflexion sur l’inclusion a été au cœur de la politique éducative et pour la création d’écoles inclusives. Cependant, un autre domaine essentiel en matière d’égalité et de participation des enfants et des jeunes en situation de handicap concerne toutefois le domaine de la protection de l’enfance au sens large, champ de réflexion à peine étudié. La protection des enfants et des jeunes en situation de handicap n’est pas suffisamment prise en compte, surtout dans ce domaine sensible.
L’objet de la contribution est de rapprocher les discussions portant sur les droits fondamentaux des enfants avec celles relatives à ceux des personnes handicapées, puisque la protection des enfants concerne tous les enfants et jeunes, qu’ils soient ou non en situation de handicap. Toutefois, si l’on considère les mises en perspectives précédentes relatives à la protection de l’enfance, notamment en contexte transfrontalier, la question suivante se pose inévitablement : « Quelle place occupent les enfants et jeunes en situation de handicap en matière de politique sociale de protection de l’enfance ? »
Dans de nombreux territoires de la Grande Région, la réponse à cette question est liée à une séparation institutionnelle de compétences à propos des enfants et des jeunes en fonction de la présence ou non d’un handicap. En Allemagne, par exemple, il existe une séparation entre l’aide à l’enfance et à la jeunesse, dans le cadre de mesures de protection de l’enfance, et l’aide à l’inclusion des enfants et des adolescents souffrant de handicaps physiques et/ou mentaux. Cette séparation, qui s’oppose à l’idée directrice d’inclusion sociale, soulève constamment des questions sur la mise en œuvre de la participation et de la protection sociales. Dans ce contexte, la thèse défendue dans cette contribution est que le domaine de la protection de l’enfance présente des lacunes systématiques en matière de handicap qui sont autant de risques structurels et pratiques. Ceux-ci sont plus grands en contextes transfrontalier de protection des enfants et des jeunes handicapés. Le projet de recherche EUR&QUA a permis de le démontrer suite à l’analyse du parcours transfrontalier d’un enfant relevant du domaine du handicap physique et mental. La mise en place de procédure stigmatisante, l’organisation des traitements de cas, les obstacles matériels à la participation des enfants alors que cette dernière est un droit prévu par la CIDE, un panel d’offres et de structures d’aides qui ne sont pas suffisamment inclusives ainsi que les pratiques professionnelles qui ne sont pas centrées sur les destinataires sont autant d’ obstacle à une mise en œuvre de la mission de protection publique qui se doit d’être orientée vers le monde de la vie et le soutien aux familles. La compétence unitaire des services d’aide à l’enfance et à la jeunesse pour tous les enfants et jeunes, qu’ils soient ou non en situation de handicap, considérée en Allemagne comme la « grande solution », offrirait non seulement la possibilité de réunir tous les cadres de vie de manière inclusive, mais aussi de mieux garantir les aspects de protection spécifiques aux handicaps, notamment en contexte transfrontalier.
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